Zurück zu den Ursprüngen: Auf dem höchsten Punkt der Erde

Julia Bocksberger

Ein junger, nackter Mann steht auf dem höchsten Gipfel eines Berges. Sein schmaler Körper wirkt wie festgewachsen. Grenzenlos erstreckt sich eine blaue Nebellandschaft hinter ihm: Doch sein Interesse gilt den Betrachtenden. Welche Rolle nimmt dieser Mensch im Verhältnis zur ihn umgebenden Natur ein?

Dass der Schweizer Maler Ferdinand Hodler sich umfassend mit dieser Frage beschäftigte, zeigen seine zahlreichen Werkgruppen, in denen der Mensch in besonderen Beziehungen zur Natur festgehalten wurde. Während er in seinen Bergsteiger-Darstellungen die Überlegenheit der Natur suggeriert, scheint der Blick ins Unendliche eine Harmonie oder gar Erhabenheit über die Natur zu zeigen. Offensichtlich befasste der Künstler sich mit diesem Sujet der Romantik: Seine Landschaft erinnert an Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer (um 1818). Diese Darstellung thematisiert die Erhabenheit über eine grenzenlose, auch bedrohlich erscheinende Nebellandschaft. Obwohl der Mensch nicht weiß, wie tief der Abgrund vor ihm reicht, zeigt sich in der entspannten und souveränen Körperhaltung des Protagonisten eine selbstsichere Dominanz.

Doch ist der junge Mann in der von uns betrachteten Darstellung der Landschaft wirklich überlegen? Die Gestalt steht orthogonal zum Berggipfel, was die Grenzenlosigkeit und die majestätische Schönheit des Hintergrundes umso deutlicher hervorhebt. Sein graziler Körper wendet sich von dem, was er vermeintlich erobert haben soll, ab. Im ersten Moment wirkt er verletzlich und seiner Umgebung ausgeliefert. Doch wirkt sein neutraler Gesichtsausdruck weder ängstlich noch verunsichert. Die Größe seines Körpers, der fast bis zum oberen Bildrand reicht, stellt einen Gegenpol zum Horizont dar. Es scheint, als ginge es dem Künstler nicht um eine Darstellung des Anthropozäns oder einer Rivalität zwischen Mensch und Natur. Der Jüngling ist hier Teil der Natur, denn er fügt sich in die Landschaft ein. Wie ein alter Baum schlägt er tiefe Wurzeln an einem Ort, den er gut zu kennen scheint. Er schenkt dem Geschehen hinter sich keine Aufmerksamkeit, denn der Ausblick ist ihm bereits bekannt. Vielmehr lädt er die Betrachtenden im direkten Kontakt dazu ein, einen Schritt nach vorne zu wagen und mit ihm in die Landschaft einzutauchen. Weder Mensch noch Natur lassen hier den Gedanken eines Primats zu. Stattdessen stellt Hodler ein delikates Miteinander dar, das mit der menschlichen Ausbeutung und Eroberung der Natur verloren gegangen ist. Dieses Gemälde lädt dazu ein, über unsere Rolle als selbsternannte Herrscherinnen und Herrscher der Natur zu reflektieren.

Die Unendlichkeit als Bildsujet wird auf zwei Ebenen eröffnet. Ist es die unendliche Landschaft, auf die Hodler hier verweist, oder doch die vermeintliche Unsterblichkeit des jungen Mannes, der durch seine aufrechte Haltung einen Gegensatz zu einem tot Liegenden darstellt?

Werkdaten

Ferdinand Hodler, Blick ins Unendliche, um 1903, Öl auf Leinwand, 113,5 × 94 cm, Hamburger Kunsthalle, Inv. Nr. HK-200583.

Ähnlichkeiten und Inspirationen

Caspar David Friedrich

Obwohl Ferdinand Hodler den Wanderer über dem Nebelmeer von Friedrich vermutlich selbst gar nicht kannte, stellen viele Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker eine Verbindung zwischen dem Schweizer Maler und der Romantik her. Dabei ist nicht nur die Ähnlichkeit der abgebildeten Landschaft selbst bemerkenswert: Das Gefühl, sich bei der Betrachtung des Werks an einen Sehnsuchtsort zu begeben und in die Natur eintauchen zu wollen, erinnert an die Naturdarstellungen des deutschen Malers.

Charles Blanc

Hodler soll die Grammaire von Charles Blanc (1813-1882), einem von ihm geschätzten Kunsttheoretiker, in seinen Aufzeichnungen stark gelobt haben. Es ist also nicht verwunderlich, dass der Jüngling in einer vergleichbaren Position wie in der vorliegenden Illustration gemalt wurde. Der aufrechte Körper verhält sich dabei orthogonal zur Erdkugel. Doch ist die Positionierung der Hände in Hodlers Darstellung anders gewählt: Die parallel auf der Brust liegenden Hände suggerieren eine selbstbewusste Haltung. Gleichzeitig macht diese Pose aufmerksam auf das Innenleben und die Gefühle des Jünglings, die sich sinnbildlich in seiner Brust befinden.

Hodlers Sehnsuchtsorte

Ferdinand Hodler, Thunersee mit Niesen, 1910, Öl auf Leinwand, 105,5 x 83 cm, Privatbesitz.

Ferdinand Hodler, Thunersee mit Stockhornkette im Winter, 1912/1913, Öl auf Leinwand, 65,5 x 88 cm, Kunstmuseum Bern.

Ferdinand Hodler, La Pointe d’Andey, Vue de Bonneville, 1909, Öl auf Leinwand, 67,5 x 90,5 cm, Paris, Museé d’Orsay, Inv. Nr. RF 1987 31.

Berg- und Seenlandschaften scheinen für den Schweizer Symbolisten Hodler Sehnsuchtsorte zu sein. Auf Reisen hält er eine idyllische Natur fest, die vom Menschen unberührt sind. Mithilfe durchlaufender Farblinien zieht er die Landschaften horizontal in die Länge. Die Berge hingegen sind majestätisch und groß. Sie reichen oft bis zum oberen Bildrand, wodurch man nur einen kleinen Teil des Himmels erkennen kann. Der Maler erschafft Orte, an denen wir die Antworten auf unsere wichtigsten Fragen finden und die Erfüllung der sehnlichsten Wünsche erfahren könnten. “Die Gipfel unserer Herzen”, wie der französische Dichter René Char sie lange nach dem Tod Hodlers nennt, erscheinen uns jedoch ungreifbar weit. Ein Mensch, der sich dort oben befindet, könnte die wahrhafte Bedeutung der Freiheit verstanden und erfahren haben. Ob sich sein Sohn Hector, der Modell für den Blick ins Unendliche stand, auf einem dieser Berggipfel befindet?

Hoch hinaus: 150 Jahre Alpinismus

Ferdinand Hodler (1853–1918): "Aufstieg III", 1894. Öl auf Leinwand, 245 × 145 cm. Aus der Folge "Aufstieg und Absturz". Kunstmuseum Bern.

Ferdinand Hodler stellte nicht nur harmonische Aufeinandertreffen zwischen Mensch und Natur dar. Seine Reihe der Bergsteiger-Darstellungen mit dem Titel Aufstieg und Absturz zeigt, welcher Gefahr der Mensch sich aufgrund seiner Neugier und dem Willen, sich als Eroberer der Natur durchzusetzen, aussetzt. Für die Weltausstellung von 1884 in Antwerpen entstanden, zeigt die Werkgruppe sieben monumentale Gemälde, die Momentaufnahmen aus dem Aufstieg auf einen Berg darstellen. Die Natur wird hier als dominante, zerstörerische Kraft inszeniert. Obwohl die Männer mit ihren Rucksäcken und Bergsteig-Instrumenten vorbereitet zu sein scheinen, schaffen sie es nichts, sich gegen die Naturgewalt durchzusetzen.

Ferdinand Hodler (1853–1918): "Absturz IV", 1894. Öl auf Leinwand, 210 x 180 cm. Aus der Folge "Aufstieg und Absturz". Kunstmuseum Bern.

Zeitgenössische Betrachtende soll diese Werkreihe an das Matterhorn-Unglück vom 14.07.1865 erinnert haben. Es war der erste erfolgreiche Aufstieg am Matterhorn, der dokumentiert wurde. Bei dieser Expedition kam es beim Abstieg zu einem Seilunglück, bei dem 4 der insgesamt 7 Alpinisten starben. Die Tragik der Geschehnisse verschärfte sich durch die Tatsache, dass dieser Aufstieg im Wettlauf gegen eine konkurrierende Bergsteiger-Gruppe geschah. Wurde hier der eigene Größenwahn zum Verhängnis? 

Klar ist jedenfalls, dass der Schweizer Jugendstil-Maler nicht deutlich macht, ob er tatsächlich dieses Unglück zur Grundlage für seine Werkgruppe nahm. Weder die abweichende Anzahl der Protagonisten noch der undefinierte Hintergrund lassen auf das Matterhorn-Unglück schließen.

Ferdinand Hodler (1853–1918): "Absturz II", 1894. Öl auf Leinwand, 307 x 167 cm. Aus der Folge "Aufstieg und Absturz". Kunstmuseum Bern.

Wie steht es mit dem modernen Alpinismus? Ähnlich wie vor 100 Jahren spielen sicherlich Neugier, Sehnsucht und ein gewisser Größenwahn der Bergsteigerinnen und Bergsteiger eine Rolle. Heute stehen jedoch andere moralische Fragen im Vordergrund: Wie ist Alpentourismus mit der Klimakrise vereinbar?

Die Forschung ist sich einig, dass der Alpentourismus in der Form, in der er heute exisitiert, nicht mehr lange bestehen bleiben wird. Je höher die (Lawinen-)Gefahr, desto geringer ist die Attraktivität. Den heutigen Bersteigerinnen und Bergsteigern geht es weniger um die Erforschung einer noch unentdeckten Natur. Viel eher steht der Wille nach Selbstverwirklichung im Vordergrund. 

Welche Prognose die Forschung zum Thema Klimawandel in den Alpen trifft und warum gerade diese Gebirgskette betroffen ist : 

https://bzt.bayern/vitalpin-klimawandel-alpentourismus/%20

Literatur

Oskar Bätschmann/Paul Müller: Die Figurenbilder von Ferdinand Hodler, in: Ferdinand Hodler. Die Figurenbilder, hg. v. Oskar Bätschmann/Paul Müller (Bd. 3.1), Zürich 2017, S. 229–233.    

Jura Brüschweiler: Zu Hodlers Blick ins Unendliche, in: Ausst.-Kat. München, Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung: Ferdinand Hodler, hg. v. Rudolf Koella, München 1999, S. 57–67. 

László Földényi: Die Struktur der ewigen Wiederkunft. Über die Landschaftsmalerei Ferdinand Hodlers, in: Ausst.-Kat. Bern, Kunstmuseum Bern: Ferdinand Hodler. Eine symbolische Vision, hg. v. Katharina Schmidt, Bern 2008, S. 47–52. 

Katharina Schmidt: Werkkommentare 4: Jugendstil-Kompositionen im neuen Jahrhundert. Blick ins Unendliche 2, in: Ausst.-Kat. Bern, Kunstmuseum Bern: Ferdinand Hodler. Eine symbolische Vision, hg. v. Katharina Schmidt, Bern 2008, S. 190.