Wie gefangen, so gehangen: Wolken im Museum

Anna Schreurs-Morét

Als wolle er das Flüchtige einfangen, stellt der argentinische Künstler Leandro Erlich (geboren 1973 in Buenos Aires) wolkenartige Gebilde in Museumsvitrinen aus. Man könnte meinen, er hätte sie direkt aus einer Kunst- und Wunderkammer entnommen. Die flüchtigen Formen scheinen in den gläsernen Kästen zu schweben: Viele Glasplatten, auf die mit Keramiktinte die Wolkenbilder eingebrannt sind, ergeben hintereinander gestaffelt das Bild einer Wolke. Doch wer hat nicht schon einmal versucht, in den Wolken am Himmel noch andere Formen zu finden: Der zweite Blick offenbart die Silhouette von Ländern, Kontinenten oder Tieren (Südamerika, Big Fish, Germany).

Das Schwebende, eigentlich Unfassbare im eng begrenzten Raum, den das Museum ihm zuweist, birgt einen enormen Kontrast: Soll die Wolke geschützt werden, oder ist sie gefangen? Beherrschen wir sie, weil sie jetzt eingefangen, den Augen zugänglich (aber dennoch nicht greifbar ist)? Verstärkt der museale Rahmen den Zauber des eigentlich Unerreichbaren oder zerstört er ihn? Schon in der Romantik galt der Blick in die Wolken geradezu als Synonym für die Befreiung des Künstlers zu einer Phantasie, die über das Buchwissen hinausgeht. So beschreibt schon der Dichter Clemens Brentano (1778 – 1842) in seiner „Szene aus meinen Kinderjahren“ den Überdruss an den alten Büchern und Bildern in seinem Elternhaus, der ihn den Blick in den Himmel wenden ließ: „So daß ich mich hin auf die Erde legte/ Und in des Himmels tausendförmgen Wolken,/ Die luftig, Farben wechselnd oben schwammen,/ Den Wechsel eines flüchtgen Lebens suchte. […] Ich saß oft stundenlang vor ihm, mich freuend,/ Wie ich die Wolkenschäfchen an die Erde/ Und meines Vaters Haus, den ernsten Lehrer/ Und all mein Übel an den Himmel bannte.“

Leandro Erlich gelingt es mit seinen Wolkenbildern, den Betrachtenden über das Verhältnis von Mensch und Natur reflektieren zu lassen: So zart und schützenswert erscheinen die Wolken hier, dass der Gedanke an einen dringend notwendigen Schutz der Natur naheliegt. Doch bedeutet das Museum einen Schutz, oder gerät der Blick auf die Natur dort eher in einen Elfenbeinturm? Wie schafft es der durch die Kunst sensibilisierte Blick auf die Natur, auch für die Gesellschaft relevant und wirksam zu werden. Dies sind drängende Fragen, die Erlichs Werke aufrufen.

Auf kunsttheoretischer Ebene erinnert der Künstler aber außerdem an das inspirierende Potential, das dem Blick in den Himmel und zu den Wolken auch in vormodernen Zeiten, zum Beispiel bei Andrea Mantegna, zukam.

Werkdaten

Leandro Erlich, The Cloud, 2018-2022 (Ansicht Ausstellung Liminal), Glasplatten, Keramiktinte, Holz, Licht, 199,5 x 160 x 81 cm, Miami, Pérez Art Museum.

Dialog in den Wolken

In einem Gemälde, das Mantegna am Ende des 15. Jahrhunderts für das Studiolo der kunstsinnigen Mäzenin Isabella d’Este in Ferrara schuf, bilden Wolken eine Gruppe von drei Gesichtern, die sich zu unterhalten scheinen. Ein inhaltlicher Zusammenhang kann leicht hergestellt werden, lädt das Geschehen darunter, in dem Minerva die Laster aus dem Garten der Tugend verjagt, zu Kommentaren ein. Doch lässt der Maler beim gelehrten Publikum auch die Eingangsworte aus Albertis Traktat über das Standbild (De statua, entstanden vor 1435) in den Sinn kommen, in dem er amorphe Naturformen als Inspirationsquelle an den Anfang jedes künstlerischen Prozesses stellt: „Die Künste derer, die sich anheischig machen, von Körpern, welche die Natur hervorgebracht hat, Formen und Bilder für ihr eigenes Schaffen herzuleiten, gehen […] auf folgenden Ursprung zurück. Man nahm wohl zufällig einst an einem Baumstrunk oder Erdklumpen oder sonst an irgendwelchen derartigen leblosen Körpern gewisse Umrisse wahr, die – schon bei ganz geringer Veränderung – etwas andeuteten, was einer tatsächlichen Erscheinung in der Natur überaus ähnlich sah“ (Ed. Bätschmann, 2000, S. 143).

Detail: Wolke mit Gesichtern. Aus: Andrea Mantegna, Minerva vertreibt die Laster aus dem Garten der Tugend, 1475/1500, Tempera auf Leinwand, 160 x 192 cm, Paris, Louvre.

Wolkige Inspirationen

Bereits in dem einige Jahre vorher entstandenen Hl. Sebastian (um 1457-59) verdeutlicht Mantegna die inspirierende Kraft der amorphen Naturformen: In der großen Wolkenformation oben links zeichnet sich deutlich ein Reiter auf seinem Pferd ab. Auch hier ist die inhaltliche Verbindung zu Sebastian, der als römischer Offizier diente, schnell gezogen. Nachdem der Soldat sich zum Christentum bekannt hatte, erlitt er unter Kaiser Diokletian das Martyrium. Sein von Pfeilen durchbohrter Körper ist an eine Säule gebunden. Der Wolkenreiter am Himmel kann als Hinweis auf seine „Vorgeschichte“ als römischer Soldat gelesen werden, doch gleichzeitig lässt der Maler wohl hier schon an die Überlegungen von Alberti denken, nach denen am Anfang der schöpferischen Kraft die visionäre Phantasie steht, die auch durch Wolken inspiriert werden kann.

Detail: Wolke mit Reiter. Aus: Andreas Mantegna, Hl. Sebastian, ca. 1457-59, Tempera auf Pappelholz, 68 x 30 cm, Kunsthistorisches Museum Wien

Über den Künstler: LEANDRO ERLICH

Der 1973 in Buenos Aires geborene Künstler lebt und arbeitet in Paris, Buenos Aires und Montevideo. Seine Werke, in denen er als Konzeptkünstler darauf zielt, die Wahrnehmung der Realität mit visuellen Mitteln zu hinterfragen, werden international ausgestellt (zuletzt in Deutschland im Kunstmuseum Wolfsburg mit der Ausstellung „Leandro Erlich. Schwerelos“, 12.10.2024-13.07.2025) und sind in den Sammlungen großer Museen wie auch privater Sammler*innen vertreten. Die Werke von Leandro Erlich laden zum Staunen ein und thematisieren gleichzeitig brisante, gesellschaftspolitische Fragen, „nicht jedoch mit einem erhobenene Zeigefinger, sondern spielerisch, partezipativ und humorvoll.“ (Andreas Beitin, 2024, S. 7)

Clemens Brentano (1778-1842), Inspiration durch die Wolken (Szene aus meinen Kinderjahren)

Oft war mir schon als Knaben alles Leben / Ein trübes träges Einerlei. Die Bilder,/ Die auf dem Saal und in den Stuben hingen,/ Kannt ich genau; ja selbst der Büchersaal,/ Mit Sandrat [sic], Merian, den Bilderbüchern,/ Die ich kaum heben konnte, war verachtet,/ Ich hatte sie zum Ekel ausbetrachtet.//

So daß ich mich hin auf die Erde legte/ Und in des Himmels tausendförmgen Wolken,/ Die luftig, Farben wechselnd oben schwammen,/ Den Wechsel eines flüchtgen Lebens suchte./ Kein lieber Spielwerk hatt ich als ein Glas, Im dem mir alles umgekehrt erschien.//

Ich saß oft stundenlang vor ihm, mich freuend,/ Wie ich die Wolkenschäfchen an die Erde/ Und meines Vaters Haus, den ernsten Lehrer/ Und all mein Übel an den Himmel bannte./ Recht sorgsam wich ich aus, in jenen Höhen/ Den kleinen Zaubrer selbst verkehrt zu sehen.//

Ich wollte damals alles umgestalten,/ Und wußte nicht, dass Änderung unmöglich,/ Wenn wir das Äußre, nicht das Innre wenden,/ Weil alles Leben in der Waage schwebet,/ Daß ewig das Verhältnis wiederkehret/ Und jeder, der zerstört, sich selbst zerstöret.“

publiziert 1800/1801 in Clemens Brentano, „Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter“

Literatur

Alberti, Leon Battista, Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei, hrsg. v. Oskar Bätschmann, Darmstadt 2000.

Ausst.-Kat. Wolfsburg, Kunstmuseum: Leandro Erlich. Schwerelos, Wolfsburg 2024.

Andreas Beitin: Editorial, in: Ausst.-Kat. Wolfsburg, Kunstmuseum: Leandro Erlich. Schwerelos, Wolfsburg 2024, S. 7.

Dino Steinhof: Schweben auf die denkbar seltsamste Weise, in: Ausst.-Kat. Wolfsburg, Kunstmuseum: Leandro Erlich. Schwerelos, Wolfsburg 2024, S. 42–48.

Johannes Tripps: Draghi – pesci – pecore. Formazioni di nubi nei dipinti primitivi fiamminghi, Vortrag 22.06.2007 anlässlich “Il vento e il tempo. Iconologia dell’atmosfera”. Convegno internazionale a cura di Alessandro Nova e Tanja Michalsky (Schriften von Johannes Tripps, 3), Heidelberg 2007, http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2007/341 [01.03.2025].