Strafe Gottes?

Daniel Altbregin

Der Maler erlebte das Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 und verarbeitete dieses Ereignis über 35 Jahre hinweg in seinem Werk. In seiner Darstellung führen Engel von oben herab die Strafe Gottes aus, während die meisten Figuren der Szene sich ihrem Glauben zuwenden: Sie klammern sich an religiöse Gegenstände oder begleiten Geistliche beim Gebet. Doch warum sollte Gott ausgerechnet Lissabon, eine streng katholische Stadt, bestrafen – und das auch noch an Allerheiligen?

Während einige Menschen auf dem mit Trümmern übersäten Boden ihre Toten betrauern, klammern sich andere buchstäblich an ihren Glauben: Zwei Männer halten sich an einem freistehenden Kreuz fest, während eine Menschenmenge im Hintergrund die soeben zerstörte Kirche verlässt und Schutz hinter einem betenden und preisenden Priester sucht. Erkennbar an der edlen blauen Tracht ist ein Edelmann gleich zweimal im Bild zu sehen. Einmal fungiert er rechts als teilnahmeloser Erzähler, während er links aktiv wird, indem er einer Frau hilft. Hierbei könnte es sich um ein Selbstportrait des Malers handeln. Die geflügelten Figuren im Himmel symbolisieren wahrscheinlich Zorn, Wut und Cholera, während der Engel mit dem flammenden Schwert allegorisch die göttliche Gerechtigkeit darstellt. Die Kirche im Hintergrund ist vermutlich die Santa Catarina do Monte Sinai, in dessen Nähe sich der Maler womöglich während des Erdbebens aufhielt. Wahrscheinlich erlebte er das irdische Geschehen so, wie er es gemalt hat, denn viele Augenzeugenberichte aus der gesamten Stadt beschreiben ähnliche Szenen. Die Ergänzung der Engel verleiht dem Gemälde jedoch einen klaren religiösen Fokus.

Interessant an diesem Werk, bei dem es sich um das einzige erhaltene Gemälde mit dem Erdbeben als Sujet handelt, ist sein zeitgenössischer Kontext, sowohl der sichtbare als auch der unsichtbare. Einerseits spiegelt es das damalige Weltbild wider, das Naturkatastrophen als Strafe Gottes verstand. Andererseits wird deutlich, dass der Wandel dieses Weltbildes darin nicht wahrgenommen wird. Besonders nach dem Erdbeben von Lissabon stellte sich immer häufiger die Frage der Theodizee: Warum zerstörte Gott eine streng katholische Stadt, die zudem an der Verbreitung des Christentums in die gesamte Welt beteiligt war – und das ausgerechnet an Allerheiligen? Weshalb wurden rund 110 Kirchen und 40 Klöster Opfer der Zerstörung, nicht jedoch das Rotlichtviertel Alfama? Viele zeitgenössische Intellektuelle beteiligten sich an diesem Diskurs, doch besonders Voltaires Auseinandersetzung mit der Leibniz’schen Philosophie – die besagt, dass der Mensch aus seiner Perspektive Gottes Plan nicht nachvollziehen kann – erregte Aufmerksamkeit. Besonders in seiner Satire „Candide oder der Optimismus“ kritisiert Voltaire Leibniz‘ optimistische Weltanschauung und fördert einen Skeptizismus.

Es ist festzuhalten, dass, laut Gerhard Lauer, dieser Diskurs wahrscheinlich nicht lange die Gemüter der Menschen beschäftigte, da kurz nach dem Erdbeben der Siebenjährige Krieg ausbrach und die Aufmerksamkeit auf sich zog. Dennoch war das Erdbeben von Lissabon entscheidend für die Entwicklung der Geologie, der Seismologie und die Verbreitung eines aufgeklärteren Bildes von Naturkatastrophen. Dies ist besonders dem Premierminister von Lissabon zu verdanken, der einen pragmatischen und logistisch effizienten Wiederaufbau der Stadt vorantrieb. Auch die Reaktionen anderer Städte, wie beispielsweise Hamburg, welches Predigten über Gottes Strafe verbot, um die Hilfsmaßnahmen nicht zu diskreditieren, trugen dazu bei.

Werkdaten

João Glama Ströberle, Das Erdbeben von Porto 1755, 1756-1792, Öl auf Leinwand, 153 × 248 cm, Lissabon, Museu Nacional de Arte Antiga.

Werkdaten

Johann Gottfried Beck, Stadtansicht von Lissabon mit Bergung der Opfer und Bestrafung von Plünderern, 1755/56, Kupferstich, 20,1 x 31,6 cm, Nürnberg, GNM

Das Erdbeben

Am Morgen des 1. November 1755 traf ein Erdbeben Lissabon, das Rekonstruktionen zufolge eine Stärke von etwa 8,5 erreichte. Sowohl durch das Erdbeben selbst als auch die darauffolgenden Brände und Tsunami wurden zahlreiche Kirchen und Klöster als auch die Staatsbibliothek mit den Aufzeichnungen Vasco da Gamas zerstört, während die Zahl der Todesopfer wohl in die Zehntausende ging. Das Erdbeben war so stark, dass es selbst in Finnland registriert wurde und auch England von einer etwa drei Meter hohen Welle getroffen wurde, während die Welle, die Lissabon traf, auf etwa 20 Meter geschätzt wird.

Der Premierminister Sebastião de Melo begann sofort mit dem Wiederaufbau der Stadt, wobei sein Pragmatismus besonders hervorgehoben wird: Leichen wurden schnellstmöglich entsorgt, um Epidemien zu verhindern, und die Stadt wurde abgeriegelt, um so genügend Arbeitskräfte zu gewährleisten. Innerhalb eines Jahres war die Stadt von Trümmern befreit. Zudem ließ er Umfragen über das Erdbeben durchführen, wodurch es untersucht und rekonstruiert werden konnte. Er gilt als „Vaters der Seismologie“. 1769 wurde er zum Marquis de Pombal ernannt und gilt in der portugiesischen Geschichte als eine Schlüsselfigur der Aufklärung.

Auch anderswo beschäftigte man sich mit dem Erdbeben. So versuchte sich beispielsweise Kant an einer „geologischen“ Hypothese zur Ursache des Erdbebens. Viele Staaten, besonders solche mit Handelsinteressen in Lissabon wie Hamburg und England, boten ihre Unterstützung an. Dies erklärt das Interesse an dieser Katastrophe, obwohl es nicht das einzige Erdbeben in Europa war.

In jüngster Zeit wurde verstärkt die epochale Bedeutung dieses Ereignisses diskutiert. Die Moralphilosophin Susan Neiman erklärt etwas provokant, dass „Lissabon“ im 18. Jahrhundert das gleiche Gewicht hatte wie heute das Wort „Auschwitz“. Auch Theodor Adorno zog den Vergleich zum Holocaust, da beide Katastrophen die europäische Kultur und Philosophie transformiert haben sollen. Dem widerspricht der Literaturwissenschaftler Gerhard Lauer, der in 1755 keine Zäsur sieht, da der darauffolgende Siebenjährige Krieg die gesamte Aufmerksamkeit auf sich zog.

Die Theodizee

Die Frage nach der Theodizee, also der Gerechtigkeit Gottes, beschäftigt die Menschheit seit Jahrtausenden. Bereits der antike Philosoph Epikur setzte sich mit diesem Thema auseinander und stellte das Paradox auf, dass es in der Welt kein Übel geben sollte, wenn Gott dieses beseitigen kann und will, da er weder schwach noch missgünstig sei. Auch zur Zeit der Aufklärung war diese Frage ein zentrales Diskussionsthema. Eine bedeutende Position nahm Gottfried Wilhelm Leibniz ein, der 39 Jahre vor dem Erdbeben von Lissabon starb. Seiner Philosophie zufolge ist unsere Welt „die beste aller möglichen Welten“, und der Mensch sei nicht fähig, Gottes Plan vollständig zu verstehen. Doch nach dem Erdbeben von Lissabon verlor dieser metaphysische Optimismus an Popularität.

Viele Denker wie Kant und später Schopenhauer lehnten die Leibniz’sche Philosophie ab. Schopenhauer bezeichnete den Optimismus als „absurd“, eine „wahrhaft ruchlose Denkungsart“, die einen „bitteren Hohn über die namenlosen Leiden der Menschheit“ darstelle. Der Optimismus sei zudem nicht mit der konkreten Erfahrung von Leid vereinbar. Der bekannteste Kritiker von Leibniz war jedoch Voltaire, der besonders durch das Erdbeben zu einer kritischen Auseinandersetzung angeregt wurde. Voltaire positionierte sich ursprünglich nicht weit weg von Leibniz und Alexander Pope, der in seinen Essays on Man den berühmten Satz „whatever is, is right“ verfasste. Dennoch setzte er sich mit religiösem Fanatismus auseinander, negativ beeinflusst durch die Bartholomäusnacht 1572, bei der es zu einem Massenmord an den Hugenotten in Frankreich kam. Neben seinem Lehrgedicht Poème sur le Désastre de Lisbonne veröffentlichte Voltaire 1759 die Novelle Candide ou l’Optimisme, in der er die philosophischen Systeme von Pope und Leibniz verspottet. Der illegitime Adelsspross Candide wächst in einem Schloss mit einer Fürstentochter und einem Philosophen auf. Letzterer entwickelt eine Philosophie, die dem Leibniz’schen Optimismus gleicht. Als Candide mit der Fürstentochter erwischt wird, wird er aus dem Schloss vertrieben und begibt sich auf eine abenteuerliche Reise voller Übel und Unglücke, aus denen er oft nur knapp lebend herauskommt.

Exkurs zum Künstler

João Glama Ströberle, 1708 in Lissabon als Sohn deutschstämmiger Eltern geboren, studierte von 1734 bis 1749 an der Accademia degli Arcadia in Rom. Zu seinen Errungenschaften zu dieser Zeit kann erwähnt werden, dass er den dritten Platz in einem Wettbewerb der Accademia di San Luca erreichte. In Rom hatte er zwei Lehrer. Zu seinem ersten Lehrer, der die Ansichten von Giovanni Pietro Bellori vertrat, fühlte er sich besonders hingezogen. 1749 zog Glama nach Porto, da sein Patron José Maria da Fonseca dort zum Bischof ernannt wurde. Nach dessen Tod 1752 ging er nach Lissabon.

Dort erlebte er 1755 das verheerende Erdbeben. Er wohnte im stark zerstörten Bezirk Mártires und soll sich in der Igreja das Chagas aufgehalten haben, als die Katastrophe geschah. In der Nähe befand sich die Santa Catarina do Monte Sinai, zu sehen im Gemälde, deren Zusammensturz er gehört oder gesehen haben könnte, da ein anderer Augenzeuge nahe der Igreja de São Paulo Schreie vom Platz der Santa Catarina vernahm. Nach dem Erdbeben kehrte Glama nach Porto zurück, wo er bis zu seinem Tod 1792 an diesem Gemälde arbeitete, das er nie vollendete. Der Einfluss seines Studiums in Rom ist in diesem Werk sichtbar. Die Komposition rückt die umstehenden Gebäude heran, um eine klare Struktur zu schaffen. Besonders auffällig sind zwei Männer in Togen im Vordergrund, die eine klassische Inszenierung zeigen, jedoch nicht vollständig in die Szenerie passen. Nach Glamas Tod wurde das Gemälde verlost und vom Händler Francisco van Zeller erworben. 1935 ging es in den Besitz des Museu Nacional de Arte Antiga in Lissabon über.

Literatur

Celina Bastos: João Glama e a pintura do terramoto de 1755, in: Ausst.-Kat. Lissabon: Anatomia de uma Pintura. João Glama e O Terramoto de 1755, Lissabon 2018, S. 6–43, übersetzt mithilfe von DeepL.

Daniel Hess: Bedrohung. Die Natur als Akteurin, in: Ausst.-Kat. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum: Hello Nature. Wie wollen wir zusammenleben?, hg. v. Susanne Thürigen u.a., Nürnberg 2024, S. 143–252.

Gerhard Lauer: Das Erdbeben von Lissabon. Ereignis, Wahrnehmung und Deutung im Zeitalter der Aufklärung, in: Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium 2007-2008, hg. v. Bernd Herrmann,, Göttingen 2008, S. 223–234, https://library.oapen.org/bitstream/handle/20.500.12657/32516/610334.pdf?sequence=1#page=238 [04.02.2025].

Rudolf Malter: „Eine wahrhaft ruchlose Denkungsart“. Schopenhauers Kritik der Leibnizschen Theodizee, in: Studia Leibnitiana 18 (1986), S. 152–182, https://www.jstor.org/stable/40694059 [04.02.2025].

Anna Reuter: The Sketchbooks of a Disciple of Marco Benefial and Agostino Masucci. Apprenticeship and Invention in the Work of João Glama Ströberle (1708-92), in: Getty Research Journal 10 (2018), S. 83–104, https://www.academia.edu/36410600/Jo%C3%A3o_Glama_Str%C3%B6berle_pdf [04.02.2025].