Schau mich an – die Bilder der Madame d’Ora
Carlotta Leitner
Dunkle Augen, gerahmt von langen schwarzen Wimpern. Die Ohren sind flach an den Kopf angelegt, die schweren Stricke binden das Rind fest an das Stallgitter. Die Betrachtenden blicken in das Gesicht eines Tieres, dessen Blick angsterfüllt und voller Grauen vor dem Bevorstehenden ist.
Die Bilder von Madame d’Ora sind erschreckend und so grausam, dass es wehtut, sie anzusehen. Über 10 Jahre lang hielt sich die als Dora Kallmus geborene Fotografin immer wieder auf den Pariser Schlachthöfen auf und zeigte der Pariser Gesellschaft die grausame Realität von Massentierhaltung und den Alltag in einem Schlachtungsbetrieb. Bis in die frühen 40er Jahre als eine „Gesellschaftsfotografin“ bekannt, zeigte Dora als Bildchronistin prominente Persönlichkeiten aus Kunst, Mode und Adel und erlangte so einen internationalen Ruf. In ihrer mehr als 5 Jahrzehnte anhaltenden Schaffenszeit vollzog Dora einen unglaublichen Stilwandel und ihre Fotografien aus den Schlachthöfen, gegen Ende ihres Lebens, weisen thematisch keine Ähnlichkeit zu den Werken vom Beginn ihrer Karriere auf. Die einschneidenden Veränderungen in Politik und Gesellschaft zu Lebzeiten Madame d’Oras haben ihr Schaffen maßgeblich beeinflusst und ihre Kamera weg von Modefotografie und hin zum Leid am Rande der Gesellschaft geführt.
Distanz ist für Madame D’Ora ein Fremdwort. Immer wieder ist sie bei Schlachtungen dabei und hält das Leid der Tiere in ihrer Kamera fest. Ein besonderes Augenmerk liegt hierbei auf dem Vorgang der Zersetzung. D’Ora fokussiert besonders die Schnittstellen, welchen den Tieren im Zuge des Schlachtens zugefügt wurden. In ihren Aufnahmen befinden sich zahlreiche Abzüge, die abgetrennte, isoliert vom restlichen Körper liegende Tierköpfe zeigen. Madame d’Ora macht hier die Unumkehrbarkeit der Trennung des Kopfes vom Körper deutlich und zeigt die grausame Realität des Todes. Auch bei noch lebenden Tieren, welchen der Akt der Schlachtung noch bevorsteht, wählt sie gezielt enge Ausschnitte und fertigt so zahlreiche Porträts von Tieren an. Diese sind intim und geben den Tieren eine Identität. Die Fotografien zeigen fühlende Wesen, die Angst um ihr eigenes Leben empfinden und Schmerz so deutlich spüren wie jedes andere Lebewesen. Die Porträts stellen eine direkte Adressierung der Betrachtenden dar und zwingen sie, sich mit dem Dargestellten auseinanderzusetzen. Doch Madame d’Ora spricht die Betrachtenden nicht nur direkt an, sondern involviert sie auch unmittelbar in den Prozess des Todes. Ein häufig gewähltes Bildmotiv sind Tiere, die durch den Prozess des Ausblutens zu Tode kamen. Mit offenen Augen liegen die Tiere auf dem Boden und es ist nicht deutlich, ob das Tier lebendig oder tot ist. Dieses Nicht-Wissen bezieht die Schauenden in den Akt des Tötens mit ein.
Die Distanz zwischen Menschen und den Vorgängen in den Schlachtbetrieben ist ein recht neuzeitliches Phänomen. Hausschlachtungen waren bis zu Beginn der Industrialisierung eine gängige Methode der Nahrungsbeschaffung und auch Schlachthäuser waren zentral an Marktplätzen oder innerhalb der Stadtmauer angesiedelt. Bewohner*innen der Städte waren so sehr nahe am Geschehen dran und die Abläufe in Schlachtbetrieben waren innerhalb der Bevölkerung bekannt. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts stiegen die Bevölkerungszahlen der Städte immer rasanter und dementsprechend wurde mehr Platz für Häuser benötigt. Die daraus resultierende gesteigerte Nachfrage nach Fleischprodukten verlangte nach immer größeren und technologisierten Betrieben, welche die größer werdende Nachfrage befriedigen konnten. Schlachthäuser wurden aus den Zentren entfernt und an den Rand der Städte umgesiedelt. Der Vorgang des Schlachtens wurde so für Fleischkonsument*innen unsichtbar. Mit Fortschreiten der Industrialisierung distanzierte sich der Mensch immer mehr vom Tier, bis es schließlich nur noch ein reines Objekt der Industrie wurde.