Saatgut für ein posthumanes Paradies
Yumiko Mie Albrecht
Wir befinden uns im Jahr 4017. Der Klimawandel hat die Erde unbewohnbar gemacht. Auf dem heutigen Spitzbergen breitet sich ein farbenfroher Pflanzenteppich aus: Rhabarber, Johannisbeeren, Engelwurz, Löwenzahn, Rotklee und Getreidearten bilden ein dichtes Blattgewebe, ein prachtvolles Blütenmeer.
Als Teil von insgesamt 12 international bekannten zeitgenössischen Künstler:innen und Künstler:innen-Gruppen, entwickelte das Künstlerduo IC-98 in Kooperation mit dem Textilkünstler Kustaa Saksi 2017 eine Arbeit für das in London ansässige Goethe-Institut und das Victoria and Albert Museum. Ausgangspunkt war es, sich ein Europa in 2000 Jahren zu imaginieren (Sonderlud 2018/2023, S. 54). Patrick Sonderlud und Visa Suonpää, seit 1998 ein Künstlerduo, arbeiteten eng mit Forscher:innen des Natural Resources Institute Finland und dem Arctic-Alpine Botanic Garden in Tromsø zusammen. Die Forschenden stützten sich auf ein Zukunftsszenario mit einem Temperaturanstieg von 4 Grad Celsius, das die folgenschweren Auswirkungen eines menschengemachten Klimawandels und eines Weiter-so-wie-bisher beschreibt. Extremwetterereignisse wie Dürre, Starkregen und extreme Hitze würden fast jährlich auftreten (Edwards 2022, S. 133). Die Forschenden trafen eine Auswahl von 22 Pflanzen, die wahrscheinlich in der Lage wären, unter diesen veränderten Bedingungen zu wachsen. Die Koordinaten im Titel verweisen auf den Standort des heutigen Saatguttresors auf der Inselgruppe Spitzbergen (Norwegen), dem Svalbard Global Seed Vault, der seit 2008 über eine Million Saatgutproben enthält und eine Art Lebensversicherung der Menschheit ist (Kat. Nürnberg 2024, S. 291, Susanne Thürigen). Aus einer posthumanen Perspektive in der Tradition eines Millefleurs-Teppichs entwarf der Textilkünstler Kustaa Saksi (geb. 1975) eine großformatige Tapisserie. Die drei Künstler treten somit in direkten Dialog mit dem Albert and Victoria Museum und seiner bedeutenden Sammlung, in der sich zahlreiche spätmittelalterliche Tapisserien befinden. Traditionell sind Pflanzendarstellungen auf Millefleurs-Tapisserien oft Hintergrund für menschliche Aktivitäten wie die Jagdszenen auf den Devonshire Hunting Tapestries (Sonderlud 2018/2023, S. 54). In A World In Waiting hat der Mensch seine Bedeutung verloren und der Blick wendet sich zurück zur Natur. Durch Rhythmus, Wiederholung, Stilisierung und Variation der Pflanzen bildet sich eine dicht verwobene Struktur, ein Pflanzenteppich. Zusätzlich wurden die Samen der als resistent geltenden Pflanzen in das Gewebe der Tapisserie im Tilburg’s TextielLab in den Niederlanden in speziell angefertigte Taschen hineingenäht und Teil des Teppichs (Chapman 2018). Die interdisziplinäre Arbeit bekommt so eine neue Deutungsebene, indem sie selbst als Speicher fungiert, der, wenn die Zeit reif ist, in tausend Blumen zum Leben erwachen kann. Ein menschengemachtes posthumanes Paradies.
Alexandra Kehayoglou, Prayer Rugs, Nr. 3, 5 und 2, 2018, Textile Tapisserie (Handtuft-Technik), Wolle, 125 x 90 cm
Alexandra Kehayoglou, Prayer Rugs + Santa Cruz River
In ihren textilen Arbeiten setzt sich die Textilkünstlerin Alexandra Kehayoglou (geb. 1982) mit aktuellen Umweltthemen auseinander. Im textilen Material entdeckte sie die Möglichkeit, Raum und Zeit nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Ihre Arbeiten stehen zwischen Teppich und Tapisserie, oft auf dem Boden präsentiert, manchmal klettert ein Teil die Wand hinauf. Sie sind nicht geknüpft oder gewebt. Kehayoglou verwendet die Methode einer Handtufting-Pistole, die das Garn in ein Tuftingtuch schießt und damit eine variable Länge zulässt. So entstehen topografische Landschaften und genaue geografische Wiedergaben von Felsen, Sträuchern, Wasser und Bodenstrukturen. Diese Landabschnitte sind auch charakteristisch für die Prayer Rugs, die neben der Auftragsarbeit Santa Cruz River für die Triennale der National Gallery of Victoria entstand. In der Arbeit sollte eine aktuelle Krise, die mit Wasser zu tun hat, thematisiert werden. Kehayoglou wählte den Santa Cruz River in Argentinien, an dem 2 Staudämme geplant sind. Als letzter freifließender Fluss Argentiniens steht er für eine fast unberührte Natur. Sie untersuchte für ihre Arbeit die betroffenen Landabschnitte. Die Erfahrung, die sie während ihrer einwöchigen Reise mit dem Kanu dort machte, inspirierten sie zu den Prayer Rugs (Gipson 2023, S. 188). Aus der Vogelperspektive eröffnen sie die Vielschichtigkeit der Natur, mal üppig und bunt, mal karg und ausgetrocknet. Sie sind als klarer Appell zu verstehen, die Natur und ihre ursprünglichen Landstriche und die biologische Vielfalt zu schützen und zu bewahren. Die Prayer Rugs sind wie viele ihrer Arbeiten begehbar. Die Spiritualität offenbart sich für die Künstlerin im Akt des Kniens, dem Einswerden mit der Natur. Im Gegensatz zu A World In Waiting und einem posthumanen Zukunftsszenario beschäftigt sich Kehayoglou mit dem Ist-Zustand der Natur, die sie umgibt, inspiriert und die sie schützen will.
Kustaa Saksi, Herbarium of Dreams
Die Natur spielt eine zentrale Rolle in den Arbeiten des Textilkünstlers Kustaa Saksi. In sich wiederholenden Formen und chaotischen Strukturen sucht er nach ihrem Wesen, das er in seine eigene Formenwelt modifiziert und visualisiert. Die Arbeit Herbarium of Dreams, eine von acht Arbeiten aus der Serie Hypnopompic, beschreibt den Grenzzustand zwischen Traum und Wirklichkeit (Saksi 2013).
“In my tapestries, I want to take the viewer on a journey through transitional, eerie spaces that emerge between the imagined and the real, sleep and wakefulness, madness and sanity” (Dessent 2023).
Hypnopompie oder der hypnopompische Zustand bezeichnet den Bewusstseinszustand während des Erwachens, bei dem Halluzinationen oder Wahnvorstellungen, wie sie etwa bei Migräne wahrgenommen werden, auftreten können. Saksis Herbarium konserviert diese imaginierten Pflanzen aus dem surrealen Grenzzustand einer psychedelischen Welt (Saksi 2013).
Literatur
Lara Chapman: Woven Visions of a Distant Future, in TLmag 30 (2018), https://tlmagazine.com/a-world-in-waiting-ic-98-kustaa-saksi/ [07.12.2024].
Blaire Dessent/Kustaa Saksi: In the Borderlands, in TLmag, 15.05.2023, https://tlmagazine.com/kustaa-saksi-in-the-borderlands/ [04.02.2024].
Tamsin Edwards: Was geschieht bei einer Erwärmung um 1,5 oder 2 oder 4°C? in: Das Klima Buch, hg. v. Greta Thunberg, 2022, S. 131–137.
Ferren Gipson: Kunst von Frauen, Vom weiblichen Kunsthandwerk zur feministischen Avantgarde, München/London/New York 2023, S. 184–189.
Kustaa Saksi, https://kustaasaksi.com/Hypnopompic [04.02.2025].
Patrik Sonderlund: A World in Waiting (78°14’08.4’’n 15°29’28.7’’e), in: ic-98 Moving Images and Other Projects 2016-2024, 2. Ausg., Iconoclast Publications 18, S. 54–57, [online publiziert 2018/2023], http://socialtoolbox.com/files/Appendix2022_spreads.pdf [07.12.2024].
Susanne Thürigen: A World in Waiting (78°14’08.4’’n 15°29’28.7’’e), in: Ausst.-Kat. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum: Hello Nature. Wie wollen wir zusammenleben?, hg. v. Susanne Thürigen u.a., Nürnberg 2024, S. 290–291.