Nymphen, Blumen und Geheimbotschaften

Madita Früh

Ein grüner, seerosenbedeckter Weiher mitten im Wald, sieben Nymphen und ein junger Mann, die alle fasziniert voneinander zu sein scheinen: Was auf den ersten Blick wie die unschuldige, neugierige Begegnung zweier fremder Welten wirkt, ist nur Sekunden von einem Unglück entfernt. Nur die Hände der Nymphen an Rock und Arm des Jungen weisen darauf hin, dass sie ihn gleich zu sich ins Wasser ziehen werden und er daraufhin nie mehr gesehen werden wird.

Der britische Künstler John William Waterhouse stellt 1896 folgende Episode aus der Dreizehnten Idylle von Theokrit dar. Hylas, ein hübscher Junge, war mit Herakles und seiner Mannschaft zur Suche nach dem goldenen Flies aufgebrochen und als sein Schüler (und Geliebter) aufgenommen worden. Als das Lager in der Bucht von Propontis (dem Binnenmeer bei Istanbul, heute das Marmarameer genannt) aufgeschlagen wurde, schickten sie Hylas, um Wasser zu holen. Während er dieser Aufgabe nachging, auf die der Wasserkrug in der Hand des Jungen auf dem Gemälde hinweist, traf er auf die Nymphen.

In der Kunst ist dieses Sujet eher selten zu finden, doch bei John William Waterhouse sticht heraus, wie versteckt die Gefahr ist, in der Hylas schwebt. Der junge Mann kniet am Ufer des Weihers und schaut interessiert auf die Nymphen herab, die brusttief im Wasser stehen und ihn neugierig mit einer Prise Misstrauen beäugen. Die Szene wirkt friedlich. Alle Figuren sind ruhig, auch das Wasser bewegt sich nicht. Zur Veranschaulichung der Bedrohung kann die Statuengruppe „Hylas surprised by the Naiades“ von John Gibson aus den 1820er Jahren als Vergleich herangezogen werden. Die bösen Absichten der Nymphen kommen wesentlich klarer zum Ausdruck: Sie sind deutlich größer als der Junge, dessen gebeugte Knie und der Schritt nach vorne den Versuch eines Ausweichens andeuten, während er von den Nymphen festgehalten und liebkost wird. Die Machtlosigkeit des Jungen ist eindeutig zu spüren. Durch den Kontrast der Darstellungsweisen wird einer der Gründe klar, warum trotz des schwierigen Sujets das Werk von Waterhouse so häufig als reines Dekorations-Element verwendet wird: Durch die Wirkung einer reinen, neugierigen Begegnung wirkt die ganze Szene um einiges unverfänglicher. Auch die Platzierung der Nymphen unterhalb von Hylas spielt hier hinein: Obwohl es als Anspielung auf das metaphorische Hinabziehen in die Unterwelt gewertet werden kann, wirken sie dadurch doch weniger bedrohlich als die Najadenstatuen, die den Jungen weit überragen.

Werkdaten

John William Waterhouse, Hylas und die Nymphen, 1896, Öl auf Leinwand, 98,2 x 163,3 cm, Manchester Art Gallery, Inv. Nr. 1896.15. 

John Gibson, Hylas Surprised by the Naiades, ca. 1827-36, Mamor, 1,60m x 1,10m, London, Tate Britain, N01746.

Präraffaeliten und Naturdarstellung

Die akademische Kunst hatte lange die Werke der großen Meister wie Raffael als den Inbegriff guter Kunst, an dem sich auch alle orientieren sollten, behandelt, als sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts der Künstlerzusammenschluss der Präraffaeliten gründete. Sie wollten ihre Kunstfertigkeit nicht durch das Kopieren der großen Meister erlernen, sondern durch das Studium der Natur. Sie lehnten die Konventionen der akademischen Kunst ab und ließen sich darum vor allem von der Zeit vor Raffael und der in seiner Nachfolge aufgestellten Regeln inspirieren – daher der Name. Sie wollten jedoch trotzdem so nah an der Natur darstellen wie möglich. Waterhouse gehörte zwar nicht zu dieser Bruderschaft, er wurde allerdings stark von ihr beeinflusst und wird häufig trotzdem zur Bewegung gezählt.

Diese Naturnähe ist in dem hier behandelten Werk zum Beispiel an den Blumen zu sehen. Zwar sind sie nicht detailliert genug, um eine komplett zweifelsfreie Identifizierung vorzunehmen, jedoch ist für jede gemalte Blume eine echte zu finden, die genauso aussieht und an einem Weiher in einem englischen Wald zu finden sein könnte. Die bemerkenswertesten hiervon sind die Seerosen, deren wissenschaftlicher Name Nymphaea lautet und die darum perfekt zum Sujet passen. Ansonsten befinden sich auf dem Bild noch Sumpfdotterblumen, Veilchen, Wasserhahnenfuß und eine einzelne Sumpfschwertlilie im Hintergrund.

Viktorianische Blumensprache

Für jede der Blumen im Bild lässt sich auch eine tiefere Bedeutung herausfinden. „Etwas durch die Blume sagen“ ist heute eine Redewendung, konnte jedoch vor mehr als 100 Jahren oft wörtlich gemeint sein. Die Viktorianische Blumensprache erlaubte es, Dinge auszusprechen, die die Etikette verbot: Blumen waren einer Vielzahl (teilweise sehr spezifischer) Bedeutungen zugeordnet, die dann je nach Nachricht, die übermittelt werden sollte, zu Sträußen oder Gestecken zusammengestellt werden konnten. (->Flint, Emma:The secret Victorian language that’s back in fashion, 2022, https://www.bbc.com/culture/article/20221012-the-flowers-that-send-a-hidden-message [10.01.2025].) Die Bedeutungen konnten in Büchern wie „The Illustrated Language of Flowers“ ,herausgegeben 1858 von Mrs L. Burke, nachgeschlagen werden. Zwar sind große Teile der Bedeutungen in verschiedenen Büchern identisch, vor allem in den späteren, die in meiner Recherche zum Einsatz kamen, jedoch gibt es teilweise auch Abweichungen oder Mehrfachnennungen. Zum Beispiel die Sumpfdotterblume (auf Englisch King Cup) wird sowohl bei Butterblumen als auch einzeln mit jeweils verschiedenen Bedeutungen aufgeführt. (->(O. A.): The Language of Flowers. An Alphabet of Floral Emblems, London/New York 1857, S. 12, 34; Greenway, Kate: Language of Flowers, London 1884, S. 10, 25.)

Natürlich ist nicht gesichert, ob die Blumen im Bild anhand ihrer Bedeutungen in diesen Büchern ausgesucht wurden, jedoch ist es nicht auszuschließen aufgrund der weiten Verbreitung dieser Sprache (wenn auch vor allem unter Frauen der Oberschicht). Außerdem wurde keine der in der Textquelle erwähnten sieben Pflanzen abgebildet und die bereits erwähnte Schwertlilie hat recht einstimmig die Bedeutung, dass eine Nachricht zu übermitteln ist.

Die Pflanzen, die in der Textquelle von Theokrit erwähnt werden, jedoch nicht ins Bild mit aufgenommen wurden, umfassen allgemein in der Gegend Butomus (Schwanenblumen) und Galgant, sowie spezifisch an der Quelle der Nymphen Binsen, Schöllkraut, Venushaarfarn, Eppich und Quecken. (-> Theokritos: Idyllen. In: Theokritos, Bion und Moschos, Stuttgart 1883, S. 74-77.) Schöllkraut weist einige Ähnlichkeit mit Sumpfdotterblumen auf, jedoch wächst es typischerweise in etwas größeren Büscheln und etwas weiter vom Boden entfernt, als die Blumen, die im Bild zu sehen sind.

Seerosen

Nymphaea

Die Seerosen werden zwar vermutlich für ihren wissenschaftlichen Namen ausgesucht worden sein, jedoch stehen sie in Nachschlagewerken für ein reines Herz: Ein starker Kontrast zu den übergriffigen Intentionen der Nymphen, weswegen die Seerosen dem Jungen zugeordnet werden könnten.

Sumpf-Schwertlilie

Iris pseudacorus

Schwertlilien werden ohne Rücksicht auf Farben oder Unterarten der Bedeutung zugeordnet, dass eine Nachricht zu übermitteln sei, was für die bewusste Auswahl dieser Blumen spricht.

Veilchen

Viola

Die Veilchen in der linken unteren Ecke stehen allgemein für Bescheidenheit oder Zurückhaltung (modesty), wonach man bei den Nymphen in dieser Geschichte auch vergeblich sucht. Allerdings können sie je nach Art auch der Bedeutung „Du beherrscht meine Gedanken“ zugeordnet werden, was wiederum um einiges besser zur Obsession der Nymphen mit Hylas passen würde.

Wasserhahnenfuß

Ranunculus aquatilis

Der Wasserhahnenfuß (crowfoot) wird allgemein der Undankbarkeit zugeordnet. Ein unangebrachter Vorwurf des Künstlers an Hylas, der keinen Einfluss auf sein Schicksal hatte? Seine Abbildung könnte als Anspielung eben darauf, dass er nicht gefragt wurde, gesehen werden.

Sumpfdotterblumen

Caltha palustris

Die bereits erwähnte Mehrfachnennung der Sumpfdotterblumen gibt ihnen die folgenden Bedeutungen: Zusammen mit Butterblumen Undankbarkeit und/oder Kindlichkeit und für sich allein gestellt das Verlangen nach Reichtum. Kindlichkeit könnte man dem jungen Hylas oder den jugendlich anmutenden Nymphen zuordnen. Das Verlangen nach Reichtum könnte als Anspielung an das Verlangen der Nymphen gegenüber Hylas gesehen werden.

Literatur

Anonym: The Language of Flowers, New York 1834, https://publicdomainreview.org/collection/the-language-of-flowers-an-alphabet-of-floral-emblems-1857/ [10.01.2025]

Anonym: The Language of Flowers. An Alphabet of Floral Emblems, London/New York 1857, https://publicdomainreview.org/collection/the-language-of-flowers-an-alphabet-of-floral-emblems-1857/ [10.01.2025].

L. Burke (Hg.): The Illustrated Language of Flowers, London/New York 1858, https://publicdomainreview.org/collection/the-language-of-flowers-an-alphabet-of-floral-emblems-1857/ [10.01.2025].

Emma Flint: The secret Victorian language that’s back in fashion, 2022, https://www.bbc.com/culture/article/20221012-the-flowers-that-send-a-hidden-message [10.01.2025].

Kate Greenway: Language of Flowers, London 1884, https://publicdomainreview.org/collection/the-language-of-flowers-an-alphabet-of-floral-emblems-1857/ [10.01.2025].

Simon Goldhill: Victorian Culture and Classical Antiquity. Art, Opera, Fiction, and the Proclamation of Modernity, Princeton 2011.

Martin Meisel: „Half Sick of Shadows“. The Aesthetic Dialogue in Pre-Raphaelite Painting, in: U. C. Knoepflmacher/G. B. Tennyson (Hg.): Nature and the Victorian Imagination, Berkeley 1977, S. 309–340.

Peter Trippi: J. W. Waterhouse, London 2013.