Kreislauf des Menschen und der Natur

Franziska Theilacker

In Giovanni Segantinis Werk sind der Kreislauf des Lebens und der Natur auf idealisierte und gleichzeitig realistische Weise zu sehen. Wie setzen sich diese Kreisläufe zusammen und was für einen Malstil verwendete Segantini dafür?

Während der Industrialisierung veränderte sich das Verhältnis des Menschen zur Natur. Durch die weltweite Mechanisierung der Agrarwirtschaft wurde die Landwirtschaft in der Schweiz zu einem schrumpfenden Sektor. Ab 1860 begann die Zahl der Beschäftigten im Agrarsektor in der Schweiz langsam zu sinken. So wurde beispielsweise das Getreide aus den USA importiert, weil es günstiger war. Die Schweiz stellte von der Getreidewirtschaft auf Milchwirtschaft um. 

Im Jahr 1858 wurde in Arco, Italien, der Künstler Giovanni Segantini (1858–1899) geboren. Er wird heute der neoimpressionistischen Malergruppe der Divisionisten zugeordnet. Bis ins Erwachsenenalter war Segantini Analphabet, weshalb das Malen für ihn ein besonderes Ausdrucksmittel darstellte. Er hatte eine leidenschaftliche Haltung gegenüber der Natur und war fast schon von ihr besessen. Er zog sich immer weiter in die Berge zurück und strebte danach immer höher hinaufzusteigen. In der Einsamkeit suchte er ein tieferes Gefühl der Verbundenheit mit der Natur. 

In seinen Werken widmete sich Giovanni Segantini der Darstellung ländlicher Alltagsszenen. Die Arbeit auf dem Land war auch 1890 für Menschen und Tiere noch sehr hart, da die Mechanisierung der Landwirtschaft durch die Industrialisierung erst langsam einsetzte. Die Natur stellte weiterhin eine Herausforderung für Mensch und Tier dar. Mehr zur Landwirtschaft findet sich in Exkurs I.

Segantini gelang es in seinen Gemälden die harte Arbeit zu idealisieren, hier in seinem Ölgemälde Das Pflügen (1890) zum Beispiel die Feldarbeit. Die Menschen auf dem Bild tragen saubere Kleidung, was nicht der realistischen Darstellung des bäuerlichen Lebens entspricht. Segantinis Fokus lag nicht auf einer realistischen Wiedergabe, sondern auf der idealisierten Darstellung des Lichts. Mehr dazu in Exkurs II.

Segantinis Werk und Leben waren von Kreisläufen geprägt. Die Menschen und Tiere, die er hauptsächlich malte, arbeiteten auf dem Land und waren abhängig von den Jahreszeiten. Jede Jahreszeit brachte eine andere Aufgabe mit sich, um Getreide für Mensch und Tier anzubauen. Im Frühling wird der Acker besät, wie in Frühling in den Alpen (Allegorie des Frühlings) (1897) zu sehen ist. Dort steht ein Mann auf einem Acker und sät Samen aus, während eine Frau die Pferde vom Feld führt. Im Sommer wird geerntet, was Segantini in Die Heuernte (1889/1898) darstellt: Eine Frau erntet gebückt das reife Getreide. Im Herbst wird gepflügt, wie es Bauern und Pferde in Das Pflügen (1890) tun. Im Winter ruht der Acker, bis im Frühjahr der Kreislauf von Neuem beginnt.

Das Alpentriptychon ist Teil eines Großprojekts von Giovanni Segantini, welches den Titel Panorama des Engardins tragen sollte. Dieses Projekt, das für die Pariser Weltausstellung 1900 geplant wurde, sollte ursprünglich aus sieben Bildern bestehen. Tatsächlich ausgeführt wurden La vita (Das Leben oder Werden), La natura (Die Natur oder Sein) und La morte (Der Tod oder Vergehen) besteht. Auch hier befasst sich Segantini mit dem Kreislauf des Lebens, der in La vita durch das Kind auf dem Schoß der Mutter dargestellt wird und in La morte durch eine Szene, in der ein toter Mensch auf einer Trage aus dem Haus getragen wird.

Werkdaten

Giovanni Segantini, Das Pflügen, 1890, Öl auf Leinwand, 117,6 x 227 cm, München, Neue Pinakothek, Inv. Nr. 7997.

Givanni Segantini, La Vita (Werden, aus: Alpen-Triptychon), 1896-1899, Öl auf Leinwand, 190 x 322 cm, St. Moritz, Segantini Museum.

Giovanni Segantini, La Natura (Die Natur oder Sein, aus: Alpen-Triptychon), 1898/1899, Öl auf Leinwand, 235 x 403 cm, St. Moritz, Segantini Museum.

Giovanni Segantini, La Morte (Der Tod oder Vergehen, aus: Alpen-Triptychon), 1896-1899, Öl auf Leinwand, 190 x 322 cm, St. Moritz, Segantini Museum.

Giovanni Segantini, Frühling in den Alpen (Allegorie des Frühlings), 1897, Öl auf Leinwand, 116 x 227cm, Los Angeles, Getty Museum, Inv. Nr. 2019.3.

Giovanni Segantini, Die Heuernte, 1889/1898, Öl auf Leinwand, 137 x 149 cm, St. Moritz, Segantini Museum.

Landwirtschaft

Die Natur ist mächtiger als der Mensch. Das zeigt sich immer wieder der Geschichte der Menschheit, aber auch im bäuerlichen Alltag. Auf dem Acker mussten Menschen und Tiere hart arbeiteten, was verdeutlicht, wie herausfordernd die Natur sein konnte.  Der oben genannte Kreislauf der Natur ist nur ein Teil von Segantinis Werk. Besonders bemerkenswert ist, dass Segantini trotz der fortschreitenden Industrialisierung weiterhin Alltagszenen auf dem Land malte. War dies ein Festhalten an der Tradition?

Feldarbeit im Val Müstair, um 1920, Fotograf*in unbekannt.

Licht und Farbe

Segantini stellte die Topographie der Landschaft in seinen Bildern so dar, dass sie auch heute noch eindeutig zuzuordnen ist. Wie bereits erwähnt, legte er jedoch keinen Fokus auf die harte Arbeit der Menschen und Tiere, sondern vielmehr auf die Darstellung des Lichtes und der Natur. Er malt weniger realistisch als idealistisch.

Segantini sehnt sich nach dem besonderen Licht in den Höhen der Berge und verstand es,  dieses in seinen Gemälden wiederzugeben. Dafür arbeitete er oft unter freiem Himmel. Er malte nicht nur tagsüber, sondern auch vor Sonnenaufgang, nach Sonnenuntergang und sogar bei Schnee im Winter. Dadurch gelang es ihm, das Licht auf außergewöhnliche Weise einzufangen.

Bice Bugatti und Giovanni Segantini vor der ersten Fassung von „Das Pflügen“, Savognin 1888/189, Fotograf*in unbekannt.

Er nutzte leuchtende Farben, um eine klare Sicht zu erzeugen. Zudem setzte er helle Flächen und Schatten gezielt ein, um ein intensives Lichtverhältnis zu schaffen. Obwohl sowohl die Divisionisten als auch die französischen Neoimpressionisten von der Optikforschung des 19. Jahrhunderts fasziniert waren, unterschieden sich ihre Maltechniken. Während die französischen Pointilisten ihre Farben in kleinen Punkten oder Tupfern auftrugen, bevorzugten die italienischen Divisionisten längere, freiere, strich- und kommaartige Pinselstriche.

Eine Besonderheit der divisionistischen Technik war, dass die Farben direkt auf die Leinwand aufgetragen wurden, ohne vorher auf der Palette gemischt zu werden.  Die Divisionsiten wurden stark von der Künstlergruppe  Macchjaioli beeinflusst, die sich durch eine Hinwendung zu Landschaften und Szenen des bäuerlichen und alltäglichen Lebens auszeichnete. Damit brachen sie bewusst mit der Malerei Italiens. Die Divisionisten experimentierten mit neuen Techniken der visuellen Darstellung und entwickelten eigene Ausdrucksformen.

Giovanni Segantini, Mittag in den Alpen, 1891, Öl auf Leinwand, 77,5 x 71,5 cm, St. Moritz, Segantini Museum.

Literatur

Frank Büttner/Andrea Gottdang: Einführung in die Malerei. Gattungen, Techniken, Geschichte, München 2012.

Ausst.-Kat. Riehen, Fondation Beyeler: Segantini, hg. v. Diana Segantini u.a., Riehen/Basel 2011.

Ausst.-Kat. Zürich, Kunsthaus Zürich: Revolution des Lichts. Italienische Moderne von Segantini bis Bella, hg. v. Züricher Kunstgesellschaft, Zürich 2008.

Walter Laedrach (Hg.): Schweizer Heimatbücher. Giovanni Segantini. Leben und Werk (44/45), Bern 1951.

Anne-Marie Rachoud-Schneider u.a.: „Landwirtschaft“, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), 19.11.2007, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013933/2007-11-19/ [30.01.2025].

Beat Stutzer (Hg.): Giovanni Segantini. Im Dialog mit Symbolismus und Futurismus, Ferdinand Hodler und Joseph Beuys, St. Moritz/Zürich 2014.