Expedition ins Ungewisse

Carolin Hamann

Was ist in unserer Welt noch unerreichbar? Gibt es eine noch unberührte Natur? Die Grenzen der Menschheit werden fortlaufend neu definiert. Rivières Bild skizziert eine Vorstellung der Naturbelassenheit, wie sie vor 130 Jahren wahrgenommen wurde: ein einzelner Eisbär thront über seinem Reich im Sonnenuntergang.

Rivières Gemälde zeigt eine isolierte, arktische Landschaft, auf der der Eisbär als Protagonist des Bildes der untergehenden Sonne entgegenblickt. Die Szenerie ist geprägt von weiten, schneebedeckten Flächen und Eisbergen, die sich in dramatischen Formen erheben. Klare Blautöne dominieren die Palette und vermitteln die klirrende Kälte der Umgebung. Erhaben thront der Eisbär auf dem markanten Gletscherabschnitt. Die unberührte Landschaft wirkt einsam durch das Fehlen jeglicher menschlicher Spuren. Im Mittelpunkt steht einzig und allein das Tier; ein einzelner Polarbär.

Briton Rivière (1840–1920) war ein britischer Maler, bekannt für seine realistischen und sentimentalen Tierdarstellungen. In London in eine Künstlerfamilie geboren – sein Vater, William Rivière, war Maler und Kunstprofessor – war er später Mitglied an der Royal Academy of Arts. Auffallend ist seine Fähigkeit, Emotionen und Menschlichkeit in seinen Tierporträts darzustellen. Seine Werke zeichnen sich durch detaillierte und präzise Studien der Tiere aus, die häufig in dramatischen oder melancholischen Umgebungen platziert sind (Dafforne 1878).

Auch in Rivière’s Werk Beyond Man’s Footsteps (1894) zeigt sich ein tiefes Verständnis für die Natur. Gleichzeitig erzeugt er eine stille Dramatik: Das Licht spielt eine zentrale Rolle und betont die kühle Atmosphäre der verschneiten Landschaft, wobei der helle Schnee und der gedämpfte Himmel eine Stimmung der Kälte und Verlassenheit schaffen. In einer Zeit, die von Industrialisierung und Urbanisierung geprägt war, könnte das Werk als eine Art Rückzug in eine unberührte, naturverbundene Welt interpretiert werden. Beyond Man’s Footsteps ist beispielhaft für die viktorianische Tiermalerei und die Reflexion über das Verhältnis von Mensch und Natur im romantischen Realismus (Röhrl 2013).

Werkdaten

Briton Rivière, Beyond Man’s Footsteps, 1894, Öl auf Leinwand, 119 x 184,5 cm, London, Tate Gallery of Modern Art, Inv. Nr. N01577

Werkdaten

William Bradford. The Arctic regions, illustraded with photographs taken on an expedition to Greenland, 1873, Photographically illustraded book, albumen prints, Royal Collection Trust, RCIN 1070274.

Arktische Regionen

Die Expeditionen des 19. Jahrhunderts waren von Herausforderungen geprägt. Ohne moderne Technologie wie GPS, Wettervorhersagen oder Satellitenkommunikation waren Forscher*innen auf traditionelle Navigationsmethoden wie Karten, Kompasse und Sextanten angewiesen. Die Reisen in abgelegene Gebiete wie die Arktis erfolgten häufig mit Segelschiffen, unterstützt durch Dampfkraft. Dabei stellten besonders Eisbildung, extreme Wetterbedingungen und begrenzte Vorräte, aber auch geringe medizinische Versorgung und die Isolation der Expeditionen eine Gefahr dar.

 

Bradfords Fotographien der Expedition nach Grönland repräsentieren die Zeit, in der das Medium als eigenständige Kunstform an Bedeutung gewann. Die Fotographien dienten nicht nur der visuellen Dokumentation, sondern auch der Präsentation der unbekannten und oftmals unzugänglichen arktischen Landschaften. Die Arktis war zu der Zeit eines der letzten unerforschten Gebiete der Erde und die Expeditionen dorthin wurden sowohl von wissenschaftlichem als auch von künstlerischem Interesse begleitet. Zusätzlich hatte das fotographische Festhalten der Arktisexpeditionen auch eine kulturelle und gesellschaftliche Dimension. Die Bilder halfen dabei, das Interesse an den unbekannten Regionen der Welt zu wecken und trugen zur Förderung des europäischen Kolonial- und Entdeckerdrangs bei. Sie ermöglichten einem breiten Publikum einen visuellen Zugang zu den fernen und als gefährlich geltenden Teilen der Erde, die zuvor nur aus Berichten und Erzählungen bekannt waren. Die Darstellungen von gefrorenen Landschaften zeigte nicht nur die Schönheit, sondern auch die Unbarmherzigkeit der Arktis (Pfäffli 2022).

Suche nach der Wildnis

Die Vorstellung von unberührter Natur ist tief in unserem kulturellen Gedächtnis verankert. Romantische Bilder wilder Landschaften, die sich fernab der Zivilisation befinden, beeinflussen dabei unsere Wahrnehmung. Doch wie verhält es sich in der Realität?

Historische und ökologische Forschungen zeigen, dass der Mensch seit Jahrtausenden tief in die globalen Ökosysteme eingreift. Bereits im späten Pleistozän beeinflusste der Homo sapiens die Umwelt durch Jagd, Feuerregimeveränderungen und gezielte Umsiedlung von Arten. Mit der Entstehung der Landwirtschaft, der Urbanisierung und des globalen Handels verstärkten sich diese Eingriffe und führten zu nachhaltigen Veränderungen der Biodiversität. Selbst abgelegene Regionen tragen Spuren menschlicher Einflussnahme durch Umweltverschmutzung, Klimaveränderungen oder die Einführung neuer Arten (Boivin/Zeder 2016).

Nach Radkau ist die Idee einer vorindustriellen, unberührten Natur ein Mythos, viele Naturlandschaften sind vom Menschen geformte Kulturlandschaften. Während ökologische Prozesse unabhängig vom Menschen existieren, wird Natur oft sozial konstruiert. Die Sehnsucht nach unberührter Natur ist somit weniger die Suche nach einem unberührten Ort als vielmehr das Bestreben, Räume für die Natur zurückzugewinnen. Statt nach einem mythischen Ideal zu streben, liegt die Herausforderung darin, bestehende Ökosysteme nachhaltig zu bewahren und sie in ihrer natürlichen Dynamik zu schützen (Radkau 1994).

Werkdaten

Richard Misrach, Untitled #1026 (Psychedelic Jessica), 2007, 60 x 80 in, archival pigment print, Atlanta, Jackson Fine Art Galerie.

Die Fotographie zeigt eine monumentale Eisformation am Strand, die sich in einer spiegelnden Wasserfläche verdoppelt. Eine einzelne Person steht im Zentrum der Landschaft, fast verloren zwischen Himmel, Wasser und Eis. Die Farbgebung ist verfremdet, invertiert, der Himmel scheint unwirklich, wodurch eine surreale Atmosphäre entsteht. Während die Landschaft erhaben erscheint, zeigt die digitale Manipulation dabei, dass unser Blick auf Natur stets konstruiert ist. Die Spiegelung im Wasser verstärkt die Sehnsucht nach einer ursprünglichen Natur, die vielleicht nur noch ein Ideal ist.

Werkdaten

Briton Rivière, Sympathy, 1878, Öl auf Leinwand, 45,1 x 37,5 cm, Tate Museum London, Inv. Nr. N01566.

Rivières Tiere

Beim viktorianischen Publikum erreichte Rivière Bekanntheit durch seine erzählenden und unterhaltenden Tierdarstellungen. Besonders Hunde standen im Zentrum seines Oeuvres. Sympathy wurde erstmals 1878 in der Royal Academy ausgestellt. Bei dem hier gezeigten Werk handelt es sich um eine Studie, die Rivière für eine spätere Version anfertigte (Rivière. Sympathy, Tate Gallery).

Sympathy zeigt ein junges Mädchen mit rot-blondem Haar, das in einem blauen Kleid auf einer Treppe sitzt. Sie stützt ihren Kopf nachdenklich auf ihre Hand und blickt sehnsüchtig nach oben. Neben ihr sitzt ein schlanker, weißer Hund eng an sie gelehnt. Der Hund hat seinen Kopf lauf der linken Schulter des Mädchens abgelegt. Er wirkt, als wolle er ihr Trost spenden und ihre Stimmung teilen. Das Mädchen wurde vermutlich zur Strafe auf die Treppe geschickt und findet in dem treuen Hund einen stillen Tröster. Die geschlossene Tür im Hintergrund verstärkt das Gefühl von Isolation und Warten. Besonders auffällig ist die Darstellung des Hundes; seine Körpersprache und Mimik vermitteln eine tiefe emotionale Resonanz, die ihn fast menschlich wirken lässt.

Durch Rivières Hundedarstellungen wurde Naturforscher Charles Darwin auf ihn aufmerksam. Darwin wandte sich an Rivière, um Zeichnungen von Hunden für seine Forschung anzufertigen. Aus diesem Austausch entstand ein Briefwechsel, der schließlich dazu führte, dass zwei von Rivières Hundedarstellungen in Darwins Veröffentlichung: Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und Thieren (1872) erschienen.

Das Transcript der Briefabbildung:                                                     An Briton Rivère:                                                                                 27. Juni [1871]                                                                                      Down, Beckenham, Kent [6 Queen Anne Street, London.]
27. Juni

Sehr geehrter Herr,                                                                             Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihren interessanten Brief, den mir Miss Bonham Carter weitergeleitet hat. Meine Vorstellung war, dass das Grinsen aus Zuneigung eine durch Gewohnheit fortgeführte Bewegung ist, die dem Entblößen der Lippen beim spielerischen Beißen ähnelt. Ich dachte, dass das Zurückziehen der Ohren eine Bestätigung dieser Idee sein könnte. Doch was Sie über das Zurückziehen der Ohren aus Zuneigung sagen, war mir bereits nach meinem Gespräch mit Miss Bonham Carter eingefallen, sodass ich meine Vorstellung weiterhin als zweifelhaft betrachten muss.

Mit aufrichtigem Dank verbleibe ich, sehr geehrter Herr,             Ihr ergebener                                                                                         Ch. Darwin (Darwin 2000).

Brief

Charles Darwin an Briton Rivière, 27. Juni 1871, Cambridge University Library.

Links: Ein Hund nähert sich einem anderen Hund mit feindseligen Absichten.

Rechts: Derselbe Hund nähert sich einem anderen Hund.

In dem Briefwechsel zwischen Darwin und Rivière handelte es sich um diese beide Illustrationen. Sie tauschten sich dabei über die künstlerische Darstellung der Tiere, deren Ausdruck sowie deren anatomische und emotionale Wirkung auf die Betrachtenden aus. 

Literatur

Nicole Boivin/Melinda Zeder: Ecological consequences of human niche construction: Examining long-term anthropogenic shaping of global species distributions, Proceedings of the National Academy of Sciences, Stanford 2016, https://www.pnas.org/doi/full/10.1073/pnas.1525200113 [24.02.25].

James Dafforne: British Artists, Briton Riviere, in: The Art Journal (1875-1887), 4. Aufl. 1878, S. 33–36, https://doi.org/10.2307/20569177 [13.02.25].

Charles Darwin: Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und Tieren, Frankfurt 2000.

Charles Darwin: Letter from Charles Robert Darwin to Briton Riviere, 27 June (1871), Cambridge Digital Library, Classmark DAR 147: 317, https://cudl.lib.cam.ac.uk/view/MS-DAR-00147/477 [13.02.2025].

Charles Darwin: Letter from Charles Robert Darwin to Briton Riviere, 27 June (1871), Cambridge 2022, https://www.darwinproject.ac.uk/letter/?docId=letters/DCP-LETT-7835.xml [13.02.25].

Lea Pfäffli: Arktisches Wissen, Schweizer Expeditionen und dänischer Kolonialhandel in Grönland (1908-1913) (Globalgeschichte, Band 32), Frankfurt/New York 2021.

Joachim Radkau: Was Ist Umweltgeschichte?., in: Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft, Bd. 15., Umweltverträgliches Wirtschaften in historischer Perspektive, 1994, http://www.jstor.org/stable/40194664 [24.02.25], S. 11–28.

Boris Röhrl: Realismus in der bildenden Kunst, Europa und Nordamerika 1830 bis 2000, Berlin 2013.

Tate Gallery: Briton Rivière. Sympathy, https://www.tate.org.uk/art/artworks/riviere-sympathy-n01566 [13.02.25].

Abb. 1 Briton Rivière. Beyond Man’s Footsteps, 1894, Öl auf Leinwand, 1190 x 11845 mm, Tate Gallery London, Inv. Nr.NO1577, https://www.tate.org.uk/art/artists/briton-riviere-453 (13.02.25).

Abb. 2 William Bradford. The Arctic regions, illustraded with photographs taken on an expedition to Greenland, 1873, Photographically illustraded book, albumen prints, Royal Collection Trust, RCIN 1070274, https://www.rct.uk/collection/1070274/the-arctic-regions-illustrated-with-photographs-taken-on-an-expedition-to (13.02.25).

Abb. 3 William Bradford. The Arctic regions, illustraded with photographs taken on an expedition to Greenland, 1873, Photographically illustraded book, albumen prints, Royal Collection Trust, RCIN 1070274, https://www.rct.uk/collection/1070274/the-arctic-regions-illustrated-with-photographs-taken-on-an-expedition-to (13.02.25).

Abb. 4 Richard Misrach, Untitled #1026 (Psychedelic Jessica), 2007, 60 x 80 in, archival pigment print, Jackson Fine Art Galerie, Atlanta, https://www.jacksonfineart.com/artists/richard-misrach/untitled-1026-psychedelic-jessica-2007/ (24.02.25).

Abb. 5 Briton Rivière. Sympathy, 1878, Öl auf Leinwand, 45,1 x 37,5 cm, Tate Gallery London, Inv. Nr. N01566, https://www.tate.org.uk/art/artworks/riviere-sympathy-n01566 (13.02.25).

Abb. 6 Charles Darwin. Letter from Charles Robert Darwin to Briton Riviere, 27 June (1871), Cambridge University Library, https://images.lib.cam.ac.uk/content/images/MS-DAR-00147-000-00477.jpg (13.02.24).

Abb. 7 Briton Rivière. Ein Hund nähert sich einem anderen Hund mit feindseligen Absichten, S. 52, https://darwinonline.org.uk/content/frameset?viewtype=text&itemID=F1142&pageseq=1 (13.02.25).

Abb. 8 Briton Rivière, Derselbe in einer bescheidenen und liebevollen Stimmung, S. 53, https://darwinonline.org.uk/content/frameset?viewtype=text&itemID=F1142&pageseq=1 (13.02.25).