Entgegengesetztes Miteinander

Cleofee Schnell

Eine sonnige Szene an einem Fluss, vielleicht nahe einem Wald mit Büschen und einem Baum. Doch ist der Baum wirklich nur ein Baum? Die Natur zeigt ihre Gesichter und die Grenzen zwischen Flora und Fauna verschwimmen, sodass man sich fragen möchte, ob man das Gesehene vielleicht gerade nur träumt?

Der Baum streckt sich der Sonne entgegen, seine Äste sind ihr zugewandt. Es sind die Gliedmaßen eines Menschen, die sich in der Struktur des Baumes erkennen lassen: Ein Körper im Profil. Gleichzeitig verschmilzt das Wesen mit einem Pferd, welches wiederum mit dem Boden verbunden ist. Die Arme wenden sich der Sonne zu, die ihre Arme entweder in Verbundenheit oder in Zurückweisung entgegenstreckt. Die Büsche scheinen aus Gesichtern zu bestehen, die einen Flusslauf begrenzen. In der Ecke sitzt ein weiteres Wesen und lächelt verschmitzt. Die Figuren sind einander zugewandt, entgegengesetzt und doch miteinander.

Ernst Ludwig Kirchner ist 57, als er dieses Bild malt. Er ist in die Schweiz nach Davos geflüchtet, da seine Kunst im Nationalsozialismus als entartet erklärt wurde und lebt dort zurückgezogen in einer Berghütte. Er ist belastet durch die politische Situation, fürchtet einen Einmarsch der deutschen Truppen in die Schweiz und zerstört deshalb in Angst sogar einige seiner eigenen Werke. Er ist stark abhängig von Opiaten, die er gegen verschiedene Schmerzen nimmt und leidet unter der Verfemung seiner Kunst. Ein Jahr später wählt er den Freitod (Kornfeld 2021, S. 3–5). In dieser Situation voller Ängste, großem Leid und Unsicherheiten malt er auf vollen drei Quadratmetern den Sommernachtstraum – ein Werk voller Harmonie, friedlichem Miteinander und Verbundenheit (Schiefler 1990, S. 711 f.). Die ausgestreckten Hände der Figuren suggerieren Sehnsucht – ist es vielleicht Ausdruck seiner eigenen Sehnsucht nach einer Harmonie, die für ihn nicht erreichbar war? Vielleicht, aber sicherlich nicht nur. Kirchner war in jungen Jahren ein Mitglied der expressionistischen und avantgardistischen Künstlergruppe „Die Brücke“, welche sich gegen die strengen gesellschaftlichen Zwänge auflehnen wollte. Die sich rasant entwickelnde Industrie führte zu immer beengteren Wohnsituationen in den Städten und weckte das allgemeine Bedürfnis nach sauberer Luft, Licht und Natur (Kat. München 2004, S. 31, 39). Kirchners Szene aus dem Sommernachtstraum zeigt also nicht nur sein persönliches Bedürfnis nach Harmonie und Einklang, sondern auch das in der Moderne vermehrt auftretende Bestreben nach einem Leben im Einklang mit der Natur und dem Wunsch nach einer vermeintlichen Ursprünglichkeit. Das Bild suggeriert, dass der Mensch so wie alle anderen Geschöpfe untrennbar mit der Natur verbunden ist und alle darin vorkommenden Wesen voneinander abhängig sind.

Werkdaten

Ernst Ludwig Kirchner, Scene aus dem Sommernachtstraum, 1937, Öl auf Leinwand, 196 x 150 cm, Wichtrach/Bern, Galerie Henze & Ketterer, Inv. Nr. Gordon 1005.

Shakespeares Sommernachtstraum

Der „Sommernachtstraum“ ist eine um 1590 erschienene Komödie von William Shakespeare. Sie spielt im antiken Athen sowie einem an die Stadt angrenzenden Wald, in welchem sich Feenwesen (darunter die Feenherrscher Oberon und Titania) befinden. Ernst Ludwig Kirchners Gemälde zeigt keine bestimmte Szene aus dem Theaterstück. Vielmehr handelt es sich vermutlich um eine Impression des verzauberten Waldes. Das Stück präsentiert die Feen als Wesen mit übernatürlichen Fähigkeiten; so können diese sich unsichtbar machen und Menschen verzaubern. Der Effekt des Unwirklichen wird noch verstärkt, indem im letzten Akt durch eine Feenfigur selbst vorgeschlagen wird, dass es sich bei dem ganzen Stück nur um einen Traum gehandelt habe (Paster 1999, S. 85). Diese verschwimmenden Grenzen zwischen der echten und der geträumten Welt lassen sich auch im Gemälde erkennen, wo die Figuren mit der Natur verwoben sind. Doch nicht nur das Reale und das Geträumte verschmelzen. Im dritten Akt wird der Kopf einer Figur in einen Eselskopf verwandelt. Hierbei bezieht sich Shakespeare auf Ovids Metamorphosen (Paster 1999, S. 275 f.). Der menschliche Körper und der des Tieres sind untrennbar miteinander verbunden, so wie auch die Figur in Ernst Ludwig Kirchners Gemälde mit dem Pferd und dem Baum verbunden ist. Sowohl im Theaterstück als auch im Gemälde wird der Wald als Gegenbild zum kulturellen Leben und als Ort der Mystik und der Verwandlung gezeigt. Die Darstellung betont die Verbundenheit von Menschen und Tieren mit ihrem Umraum.

Kleine Eiszeit - doch kein Sommernachtstraum?

Das Theaterstück entstand im späten 16. Jahrhundert, einer Zeit, die nach heutiger Einschätzung als „kleine Eiszeit“ bekannt ist. Das kalte Klima führte zu einigen Missernten und belastete die Bevölkerung stark. Zu dieser Zeit glaubte man, wie auch heute, dass die klimatischen Veränderungen durch den Menschen verursacht worden waren. Allerdings sah man damals als Auslöser das unmoralische Verhalten der Menschen, das dann durch Gott u.a. mit Hungersnöten und Seuchen gestraft wurde. Im Theaterstück wird zu Beginn kurz erwähnt, dass ein Streit zwischen den Feenherrschern Oberon und Titania für das schlechte Wetter verantwortlich sei. Auch hier, in der künstlerischen Verarbeitung dieser Krise zwischen den Menschen und der Natur, verschwimmt die Grenze zwischen dem Realen, der Religion und dem Übernatürlichen (Paster 1999, S. 267 f.).

Davos als Heilkurort

„Der Weg zur Kraft und Gesundheit führt über Davos“ – so der Titel eines von Otto Morach gestalteten Werbeplakates von 1928. Es bezieht sich auf den Ruf des Kurortes Davos, Heilung von der damals schwer bis gar nicht behandelbaren Tuberkulose bieten zu können. In die Wege geleitet wurde dies durch den Arzt Alexander Spengler in den 1860er Jahren. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Davos, im Gegensatz zu heute, kaum Infrastruktur oder Attraktionen, was der Nutzung als Kurort sehr zu Gute kam. Davos erfreute sich bald enormer Beliebtheit aufgrund der beworbenen Ruhe und Rückzugmöglichkeiten, aber vor allem wegen der „heilsamen Luft“ in den Bergen – dies überzeugte vor allem die wohlhabenderen Patienten, die an der Luft- und Wasserverschmutzung und der allgemeinen Enge der industriell geprägten Großstädte litten (Condrau 2021, S. 51-55).

Kirchner in Davos

Ernst Ludwig Kirchner begab sich erstmals 1921 bei Dr. Lucius Spengler in Therapie, um seine Opiatabhängigkeit zu bekämpfen. In Davos bezog er zunächst das Bauernhaus „In der Lärchen“, dann später das Haus „Auf dem Wildboden“. Obwohl die Aufenthalte zunächst als Entziehungskuren vorgesehen waren, gaben sie ihm einen zweiten künstlerischen Schaffensort. Für Kirchner, der zuvor in Berlin gelebt und gewirkt hatte und dessen Kunst stark durch die Einflüsse der Hektik und Lebendigkeit der Großstadt beeinflusst war, stellten die Zurückgezogenheit, Ländlichkeit und Nähe zur Natur eine enorme Umstellung, aber auch eine große Inspirationsquelle dar. Er bewegte sich weg von Motiven wie belebten Straßen oder Tänzerinnen, hin zu Naturdarstellungen von Bergen und Wäldern und dem Alltagsleben der um ihn lebenden Bauern mit ihren Tieren. Hier zu sehen ist sein Werk „Reiterin“ von 1931/32, welches auch das Thema der Verschmelzung von Mensch und Tier behandelt (Ritter 2010, S. 175 f.).

Literatur

Florian Condrau: Tuberkulose und Davos, in: Ausst.-Kat. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum: Europa auf Kur. Ernst Ludwig Kirchner, Thomas Mann und der Mythos Davos, hg. v. Daniel Hess, Nürnberg 2021.

Ausst.-Kat. München: Auf der Suche nach dem Ursprünglichen. Mensch und Natur im Werk von Otto Mueller und den Künstlern der Brücke, hg. v. Magdalena Moeller, München 2004.

Eberhard W. Kornfeld: Zu Ernst Ludwig Kirchners Suizid am 15. Juni 1938, Bern 2021.

William Shakespeare: A Midsummer Night’s Dream. Texts and Contexts, hg. v. Gail Kern Paster, Boston 1999.

Gustav Schiefler (u.a.): Briefwechsel. 1910-1935/1938, Stuttgart 1990.

Beate Ritter: Bergwelten. Kirchners erste Jahre in Davos, in: Ausst.-Kat. Frankfurt, Städel-Museum: Ernst Ludwig Kirchner. Retrospektive, hg. v. Felix Krämer, Ostfildern 2010.