Der Wilde Wald?
Lara Mendzigall
Wagemutig begibt sich der Ritterheilige Georg in die Tiefen des düsteren Waldes, auf der Hut vor dem Ungeheuer, das die Stadt Silena in Angst und Schrecken versetzt. Dennoch ist unklar, von wem die eigentliche Bedrohung ausgeht. Ist es das Monster? Oder nicht doch etwa der Wald?
Auf der kleinen Tafelmalerei, die 1510 von Albrecht Altdorfer (1480–1538) angefertigt wurde, scheint zunächst der undurchdringliche Wald im Vordergrund zu stehen. In unterschiedlichen Grün- und Brauntönen entsteht ein Gebilde aus Stämmen, Büschen und detailliertem Blattwerk, das nur durch eine Lichtung in der rechten unteren Bildecke durchbrochen wird: hinter zwei Baumstämmen öffnet sich ein Ausblick auf “blaue Bergesfernen“(Netzer 1967, S. 165). Die Szene, die sich davor abspielt und namensgebend für die Miniatur ist, scheint in der Fülle an Grün unterzugehen. Ein für den Kampf gerüsteter Ritter reitet mit gezückter Lanze einem kauernden Drachen entgegen, sein weißes Pferd setzt zum Sprung an. Der Kampf ist Teil einer Bildtradition der Georgslegende, die die Verwundung des Drachen durch den Ritterheiligen darstellt. Das Werk Albrecht Altdorfers ist hier jedoch als besonders zu betrachten: Es ist das einzige Bildwerk, das den Wald als Schauplatz des Geschehens so zentral in den Mittelpunkt rückt. Dabei kommt ein solcher Ort im ursprünglichen Text der mittelalterlichen Heiligenlegenden (Legenda aurea) gar nicht vor. Warum also versetzt der Maler die Geschichte in einen Wald?
Die Wildnis als Ort der abenteuerlichen Legenden und mystischen Wesen scheint zunächst ein gutes Zuhause für den Drachen zu sein. So ist uns auch der Topos des wilden Waldes als Ort der Gefahren durch zahlreiche Märchen und Erzählungen nicht fremd (Stadlober 2006, S. 116, S.246). Dies äußert sich hier besonders in der Darstellungsart der Geschichte: Die sonst so dramatische Kampfszene wirkt eher gemäßigt. Beinahe verwundert stehen sich das Ungeheuer und der Heilige gegenüber, seine Lanze ist gesenkt. Es ist die Umgebung, die das Gefühl der Beklemmung hervorruft. Ohne räumliche Distanz entfaltet sich das verflochtene Dickicht, ein Durchdringen mit Blicken ist gar nicht möglich. Man mag nicht auszumachen, wo ein Baum endet und der nächste beginnt; der Federbusch des Ritterhelms verschmilzt mit dem ihn umgebenden Gewächs. Wie es der Heilige überhaupt geschafft hat, sich einen Weg durch das wogende Laubmeer zu bahnen, ist fraglich.
Altdorfer schafft es, dem Wald eine viel größere Bedeutung zu geben, als er zuvor in der Kunstgeschichte hatte. Er ist nicht mehr Kulisse, Dekoration oder Hintergrund. Stattdessen wird die Blätterwand zum gefürchteten Akteur und dadurch zum Stimmungsträger der dargestellten Geschichte.
Mythen vom „Ur“-Wald und der Nachhaltigkeit

Hans Carl von Carlowitz, Sylvicultura oeconomica, verlegt von Johann Friedrich Braun, 1713
Allgemein hält sich die Vorstellung, dass Altdorfer und seine Zeitgenossen in ihren Werken eine Art germanischen „Urwald“ zeigten. Dieser beruht auf dem sogenannten hercynia silva und geht damit auf die Schriften des Conrad Celtis‘ (1459–1508) zurück. Die darin verbreitete Annahme eines Germaniens, das von einem unberührten, wilden Wald bedeckt war, entspricht jedoch nicht der Realität. Seit der sogenannten neolithischen Revolution wurde Holz als Hauptmaterial für den Siedlungsbau sowie zur Energiegewinnung verwendet, was bereits im Mittelalter zu massiven Rodungen und ersten Versuchen der Wiederherstellung führte (Küster 2024, S.37–38). Schon Mitte des 14. Jahrhunderts erfolgte durch die Nadelbaumsaat, entwickelt durch den Nürnberger Ratsherrn Peter Stromer (1315–1388), eine Wiederaufforstung des Nürnberger Reichswaldes. Mit der Veröffentlichung der Sylviculutra oeconomica von Hans Carl von Carlowitz (1645–1714) erschien auch ein erster Ansatz der Nachhaltigkeit, um das Holz als Ressource erhalten zu können. Wie jedoch Küster in seinen Texten anmerkt, ist eine Wiederherstellung der früheren Natur nicht möglich, da es keinen ursprünglichen Zustand gibt – Natur befindet sich in einem ständigen Wandel (Küster 2024, S. 43). Bis heute ist die Vorstellung verbreitet, dass wir in früheren Werken Einblick erhalten in eine damals noch unberührte Natur. Diese Vorstellung ist ebenso irreführend wie die Annahme, dass es sich bei dem Thema der Nachhaltigkeit um ein Konzept unserer Zeit handelt. So wie es die unberührte Natur nicht gab, hat es schon damals Versuche der Nachhaltigkeit gegeben; sie wurden nur nicht so benannt (Küster 2024, S. 43). Mit unserem heutigen Wissen um diese Tatsache können wir die Werke aus der damaligen Zeit jedoch als das betrachten, was sie sind: vergängliche Momentaufnahmen, die den kurzen Zustand einer Landschaft im Wandel festhalten. Die Werke ermöglichen es uns somit, einen Einblick in die unwiderruflichen Veränderungen zu erhalten, die der Mensch schon damals an der Natur vorgenommen hatte.
Literatur
Daniela Bohde/Astrid Zenkert (Hg.): Der Wald in der Frühen Neuzeit zwischen Erfahrung und Erfindung. Naturästhetik und Naturnutzung in interdisziplinärer Perspektive, Köln 2024.
Hansjörg Küster: Der reformierte Wald. Angst vor Übernutzung und die Idee der Nachhaltigkeit, in: Der Wald in der Frühen Neuzeit zwischen Erfahrung und Erfindung. Naturästhetik und Naturnutzung in interdisziplinärer Perspektive, hg. v. Daniela Bohde/Astrid Zenkert, Köln 2024, S. 35–61.
Daniela Bohde: Zwischen Beobachtung und Imagination. Wälder und Bäume in der Graphik Albrecht Altdorfers und Wolf Hubers, in: Der Wald in der Frühen Neuzeit zwischen Erfahrung und Erfindung. Naturästhetik und Naturnutzung in interdisziplinärer Perspektive, hg. v. Daniela Bohde/Astrid Zenkert, Köln 2024, S. 85–119.
Ausst.-Kat. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum: Hello Nature. Wie wollen wir zusammenleben?, hg. v. Susanne Thüringen u.a., Nürnberg 2024.
Remigius Netzer (Hg.): Alte Pinakothek München. 66 Meisterwerke interpretiert von namhaften Experten, Kunstwerke der Welt, München 1967.
Andreas Prater: Zur Bedeutung der Landschaft beim frühen Altdorfer, in: Aufsätze zur Kunstgeschichte. Festschrift für Hermann Bauer zum 60. Geburtstag, hg. v. Karl Möseneder/Andreas Prater, Hildesheim u.a. 1991.
Margit Stadlober: Der Wald in der Malerei und der Graphik des Donaustils, Wien u.a. 2006.