Der neugierige Blick in die Höhle

Marie Klauder

Von der Neugierde erfasst, erschließt sich dem Menschen der Zugang zu neuen Erfahrungs- und Erkenntnisräumen. Im Staunen und Sich-Wundern lässt uns Giorgione mit seinem Gemälde ,,Die drei Philosophen“ zurück, innehalten und lädt zu einem langanhaltenden Schauen ein.

Das 1508/09 entstandene Ölgemälde des venezianischen Malers Giorgio del Castelfranco (1477–1510) wird von drei männlichen Figuren und einem mächtigen Felsblock, der sich bis zum linken Bildrand ausdehnt, bestimmt. Die nach Lebensalter, Kostüm, Attributen, Haltung und Position auf den Stufen differenzierten Männer sind in Nahsicht auf einem Felsplateau angeordnet und werden von Bäumen hinterfangen. Im Hintergrund eröffnet sich der Blick auf eine Fernlandschaft mit einigen Gebäuden.

Der sitzende Mann im Bildzentrum wendet sich kontemplativ dem dunklen Erdschlund zu, während die beiden stehenden Männer rechts in Frontalansicht mit gesenkten Blicken den Betrachtenden zugewandt sind.  Der junge Mann, mit Zirkel und Winkelmaß in den Händen, ist ganz vertieft in die Besichtigung der Grotte. Er hält inne und gibt sich wach und konzentriert dem Sehen der Grotte hin. Auf dem dreistufigen Gestein ist der Jüngling auf der höchsten Stufe angeordnet. Die beiden Protagonisten am Bildrand scheinen weder aktiv ihre Umwelt wahrzunehmen noch ein Gespräch zu führen. Der Greis umklammert eine astronomische Handtafel mit den Phasen des Mondes[1] in den Händen und hält einen Zirkel in der Linken.

In Kontrast zu den hell angeleuchteten Philosophen steht die merkwürdig überhängende Felsformation auf der linken Seite. Der rätselhafte Erdschlund zieht sich bis zum oberen Bildrand und hat wohl noch einen größeren Teil des Bildes eingenommen.[2] In der Dunkelheit der bildräumlich hervorgehobenen Höhle sprießen Efeu und ein Feigenbaum empor. Dahinter erstreckt sich eine hügelige Landschaft. Erkennbar ist ein landwirtschaftliches Anwesen mit Turm und Mühlrad, das von einer Ballung von Laubbäumen umgeben ist. In der atmosphärischen Färbung des Himmels platzierte der Künstler eine Sonne, die im Rücken der Protagonisten auf- oder untergeht. Eine zweite Lichtquelle lässt Licht von vorne links in das Bild fallen.

Werkdaten

Giorgio da Castelfranco, Die drei Philosophen, 1508/09, Öl auf Leinwand, 125,5 x 146,2 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum, Inv. Nr. Gemäldegalerie 111.

Der Bildinhalt bleibt ein ungelöstes Rätsel

 

Marcantonio Michiel beschrieb das Bildwerk 1525 im Hause des venezianischen Mäzen Taddeo Cortadini als Darstellung ,,La tela a oglio delli 3 phylosophi nel paese, dui ritti et uno sentado che contempla gli raggii solari, cun quel saxo finto cusi mirabilmente, fu cominciata da Zorzo da castel Franco et finita da Sebastiano Venitiano.“[3] Diese Interpretation des Bildthemas wurde bereits von späteren Besitzern verworfen, die darin ,,Drei Mathematiker“ oder ,,Die drei Weisen aus dem Morgenland“ erkennen wollten. [4] Das Deutungsrätsel um die Identität der Dargestellten und das Sujet des Bildes zieht sich bis in die heutige Zeit fort und kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden.

Giovanni Bellini (Giambellino), Verklärung Christi, 1478-79, 115 x 154 cm, Öl auf Holz, Neapel, Museo e Gallerie Nazionali di Capodimonte.

Fokus Jüngling

 Die Heilsdarstellung weicht einer vermessenden Naturbetrachtung

 

Giorgione bringt in seinem Werk traditionelle Bildelemente mit ein, die auf seinen Meister Giovanni Bellini (1435-1516) zurückgehen. In der Dreistufigkeit, dem Steingeröll und dem kreisförmigen Berggelände sind klare Bezüge zu Bellinis ,,La Transfigurazione Christi“ erkennbar. Bei Giovanni Bellini dominiert absolut die Zentralität der biblischen Darstellung und sein Prinzip der Symmetrie weicht einer naturbezogenen Ausgewogenheit. Giorgione hingegen schert aus dem traditionellen Bereich der Sacra Conversazione aus und rückt die Naturbühne in den Vordergrund. Nicht das Wunder der Inkarnation und die in der Bibel verkündete Offenbarungserkenntnis sind im Bildvordergrund, sondern die Naturdeutung und Naturerkenntnis. Salvatore Settis postuliert, dass das dargestellte empirische Interesse des Jünglings trotzdem noch der Kenntnis des Göttlichen dient. Damit wird die Wissenschaft, das empirische Durchdringen der Umgebung, auf die gleiche Stufe gestellt wie die Theologie auf dem Weg des Menschen zu neuen Erkenntnissen.  Während der zeitgenössische Dichter Dante in seinem Inferno den unzähmbaren Wissens- und Forscherdrang Odysseus‘ schiffbrüchig im Abgrund enden lässt, wird die konzentrierte Naturbetrachtung auf dem Weg zur Erkenntnis hervorgehoben und positiv konnotiert. Von der Neugierde getrieben, erforscht der Mensch mit seinen eigenen Instrumenten die Welt und limitiert die Wissensaneignung nicht auf das Studium der Schrift. Erst durch die Betrachtung der Natur ist der Mensch in der Lage die Welt und sich selbst besser zu begreifen und zu verstehen. Die forschende Neugier war in der frühen Neuzeit Triebfeder und Wurzel der Weiterentwicklung von Kunst und Kultur, wie sie im Quattrocento in Venedig zu beispielloser kultureller Entfaltung führte.

 

Venedig Eine Denkfabrik im beginnenden Cinquecento

Die Serenissima an der Adria hatte sich ab dem 13. Jahrhundert zur Großmacht entwickelt und war durch ihre günstige Lage am Meer der internationale Dreh- und Angelpunkt des Handels. Die ehemals dem byzantischen Reich unterstellte Republik basierte auf der Herrschaft des Patriziats. Die Macht konzentrierte sich in der Nobilität, die im Großen Rat und später im Senat und im Rat der Zehn – die obersten Organe der Republik – die wichtigsten Entscheidungen traf. Im Vergleich zur föderal geprägten Region nördlich der Alpen war die italienische Lagunenstadt keiner höheren Instanz unterstellt und souverän. Durch den florierenden Handel gab es genügend Kapital, das umgesetzt werden konnte. Die Seerepublik entwickelte sich 15. und 16. Jahrhundert zum Ort der Innovation und stach als Zentrum der Buchdruckkunst und des Verlagswesen heraus. Venedig bildete den Nährboden für ein gut ausgebildetes Netz von Humanistenkreisen. Diese Gruppe bestand aus kultivierten, anspruchsvollen und intellektuell neugierigen Patriziern mit einem regen Interesse für antike Gelehrsamkeit. Im Jahre 1497 wurde ein Lehrstuhl für griechische Philosophie in Padua eingerichtet.

In diesem Umfeld des geistigen Austauschs muss auch die Rezeption des in Rätsel gehüllten Bildes gesehen werden.  Im Zentrum des Bildes findet man eine betrachtende Figur vor, die vermittels der nach links gerichteten Positur den Blick ins Innere der Grotte leitet. Was sieht er dort, was zieht in so verzaubernd in seinen Bann? Die Fülle an Deutungen zeigt, dass dieses Kunstwerk bis heute zur eigenen Imagination und Assoziationen anregt. Johannes Grave formulierte jüngst, dass diese anhaltende Suche nach dem Sinn, die immer neue Deutungsvariationen hervorbringt, der ursprünglichen Funktion des Werkes näherkommen könnte.(Grave 2023, S.83) Damit ist die Betrachterfunktion des ,,denkenden Schauens“ im Werk mitgedacht.  Der Vorgang des Sehens, der Entdeckung und des Darübernachdenkens hat größere Relevanz als das Dechiffrieren eines vorherbestimmten Sinns.

Literatur

Wolfgang L. Eller: Giorgione. Werksverzeichnis, Rätsel und Lösung, Petersberg 2007, S. 81–88.

Mino Gabriele: Die drei Philosophen, die Weisen aus dem Morgenland und das Nokturlabium, in: Ausst.-Kat. Wien, Kunsthistorisches Museum:  Giorgione. Mythos und Enigma, hg. v. Sylvia Ferino-Pagden/Giovanna Nepi Scire, Wien 2004, S. 79–84.

Johannes Grave: Schweifendes Schauen. Ein neues venezianisches Bildkonzept und seine Wurzeln in spätmittelalterlicher Frömmigkeit, in: Ausst.-Kat. München, Alte Pinakothek: Venedig 500. Die sanfte Revolution der Malerei, hg. v. Andreas Schumacher, München 2023, S. 70–83.

Willi Hirdt: Bildwelt und Weltbild. Die drei Philosophen Giorgiones, Tübingen 2002.

Salvatore Settis: Giorgiones Gewitter. Auftraggeber und verborgenes Sujet eines Bildes der Renaissance, übers. v. Maja Pflug, Berlin 1978.

Karin Zeleny: Giorgiones drei Philosophen: eine philologische Untersuchung, in: Ausst.-Kat. Wien, Kunsthistorisches Museum: Giorgione entmythisiert, hg. v. Sylvia Ferino-Pagden, Wien 2008, S. 191–198.