Behind Bars
Jule Engelmann
Ein kraftvolles Tier hinter Stäben – Max Slevogts Tiger im Zoo (1901) fängt eindrucksvoll die Spannung zwischen Wildheit und Gefangenschaft ein. Der Tiger verharrt im Käfig, vor ihm eine helle Außenwelt. Die Darstellung ermöglicht es, sich in das gefangene Tier hineinzuversetzen und zu hinterfragen, was wir als artgerechte Haltung erachten und warum Einrichtungen wie Zoos überhaupt notwendig zu sein scheinen.
Der Tiger, der mittig im Bildraum dargestellt ist, befindet sich in einem Gehege. Er kehrt seinen Blick von den Betrachtenden ab und schaut stattdessen in Richtung des lichterfüllten Zoogeländes. Auf der gegenüberliegenden Seite der Gitterstäbe bildete Slevogt einige Personen ab, die bei ihrem Besuch im Zoo am Gehege der Raubkatze stehengeblieben sind, um diese aufmerksam zu betrachten. Die Stäbe bilden dabei eine deutliche Barriere zwischen dem Tier und den Menschen. An manchen Stellen scheinen sie sich jedoch aufzulösen und den gezielten Lichtakzenten zu weichen, mit denen Slevogt dem Bild Leben einhauchte. Das Spiel von Licht und Schatten sowie der Kontrast des kargen, steinigen Innenraumes zum einladenden, sommerlich leuchtenden Grün der Außenwelt betont die Diskrepanz zwischen der Enge des Käfigs und der Freiheit des Außenraums. Besonders hervorzuheben ist die ungewöhnliche Perspektive, die Slevogt in diesem Gemälde gewählt hat. Es ist eindeutig, dass das Hauptinteresse Slevogts der Raubkatze galt und nicht den in die untere Ecke des Bildes verbannten Zoobesuchern.
Werkdaten
Max Slevogt, Mädchen vor dem Löwenkäfig, 1901, Öl auf Leinwand, 4,5 x 81,5 cm, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, Inv. Nr.: KM seg Wrede,I,7
Paul Klimsch, Max Slevogt malt den Papageienwärter, 1901

Paul Klimsch, Max Slevogt malt den Papageienwärter, 1901, Öl auf Leinwand, 51 x 33,4 cm, Inv. Nr.: SG 288
Auch andere Künstler aus Slevogts Generation entdeckten zoologische Gärten als Motiv für ihre Kunst. Maler wie Rembrandt Bugatti, August Gaul oder Friedrich Karl Ströher experimentierten in Zoos mit neuen Darstellungsformen und lösten sich von romantisierten Tierporträts. So war Slevogt auch im Frankfurter Zoo nicht allein. Paul Klimsch portraitierte ihn beispielsweise beim Malen des Papageienmannes. (Feulner S.140)
Gefangen für den Fortschritt? Die Rolle der Zoos im Lauf der Geschichte
Die ersten bekannten Tiergärten entstanden in den frühen Hochkulturen. Laut dem Verband für Zoologische Gärten hielt der chinesische Kaiser Wen-Wang 1150 v. Chr. einen „Park des Wissens“, in dem Tiger, Nashörner, Tapire und Riesenschlangen lebten. Ägyptische Pharaonen nutzten Tiergärten, um ihren Einfluss zu demonstrieren. Sie hielten Tiere aus weit entfernten Regionen wie Elefanten und Giraffen. Im Mittelalter existierten vor allem kleine, für den Adel bestimmte Menagerien, die „exotische“ Tiere aus fernen Ländern beherbergten (Falter). Sie waren Ausdruck von Prestige und boten den Herrscherhäusern eine Möglichkeit, sich durch ihre seltenen Sammlungen zu profilieren.
Mit der Aufklärung und den Fortschritten in Wissenschaft und Technologie veränderte sich die Haltung und Präsentation von Tieren. Der älteste noch bestehende Zoo, der Tiergarten Schönbrunn in Wien, wurde 1752 eröffnet und galt als ein Ort, der Unterhaltung und Wissenschaft verbinden sollte.
Im 19. Jahrhundert erlebte die Gründung zoologischer Gärten einen Aufschwung. Der Berliner Zoo, der 1844 eröffnet wurde, galt als ein Meilenstein in der Geschichte der Zoos, da Tiere in „naturnahen“ Gehegen präsentiert werden sollten (Anhalt S. 63). Doch diese Naturnähe war und ist oft eher Illusion als Wirklichkeit. Viele Tiere leben bis heute auf kargem Beton oder in kleinen, wenig abwechslungsreichen Gehegen, die ihrem natürlichen Lebensraum kaum entsprechen. Diese unzureichenden Haltungsbedingungen führen bei zahlreichen Tieren zu Verhaltensauffälligkeiten wie zu sich ständig wiederholenden Bewegungsmustern, die als Ausdruck von Stress und Langeweile gelten.
In der modernen Zeit werben Zoos damit, eine entscheidende Rolle im Arten- und Naturschutz zu spielen. Zwar gibt es zweifellos wichtige internationale Tierschutzprogramme, die zur Erhaltung bedrohter Tierarten beitragen, doch die Mehrheit der Tiere in Zoos gehört nicht zu diesen gefährdeten Arten. Vielmehr stehen nach wie vor Unterhaltungsaspekte im Vordergrund. Die oft propagierte Funktion der Bildung bleibt fragwürdig, wenn Tiere in künstlichen, unzureichenden Umgebungen gezeigt werden, die wenig über ihr natürliches Verhalten oder ihre Lebensräume aussagen.
Tiger - Die letzten ihrer Art
Tiger (Panthera tigris) sind die größten Raubkatzen der Welt und bewohnen eine Vielzahl von Regionen, darunter tropische Regenwälder, Mangrovensümpfe und Graslandschaften. Ihr Verbreitungsgebiet erstreckt sich von Indien über Südostasien bis nach Russland.
Doch ihr Lebensraum schrumpfte dramatisch. Durch Abholzung, landwirtschaftliche Expansion und Wilderei sind Tiger stark bedroht. Einst durchstreiften sie weite Teile Asiens, heute gibt es nur noch wenige isolierte Populationen.
Auf der Roten Liste der IUCN (International Union for Conservation of Nature) werden Tiger als gefährdet eingestuft. Von den ursprünglich neun Unterarten sind drei bereits ausgestorben. Schätzungen zufolge gibt es heute nur noch etwa 2608-3905 wildlebende Tiger weltweit. (Goodrich u.a.)
Eine umfassende Bibliographie zum Tiger und dessen Bedrohung durch Lebensraumverlust und Wilderei findet sich auf der Website der IUCN – DOI: https://dx.doi.org/10.2305/IUCN.UK.2022-1.RLTS.T15955A214862019.en
Die anhaltende Zerstörung natürlicher Lebensräume zwingt Tiger zudem zunehmend in die Nähe menschlicher Siedlungen, was zu immer häufigeren Konflikten führt. Während die Tiere durch Waldrodung und Beutemangel gezwungen sind, Nutztiere oder sogar in seltenen Fällen Menschen anzugreifen, werben Naturschutzorganisationen für Lösungen zur Koexistenz. Vielerorts sind Schutzgebiete jedoch unzureichend, Wilderei bleibt ein großes Problem und wirtschaftliche Interessen dominieren politische Entscheidungen.
Ein besonders drastisches Beispiel ist Nepal, wo sich die Tigerpopulation seit 2010 bis 2022 fast verdreifacht hatte. Was aus Sicht des Artenschutzes einen Erfolg darstellt, hat für die Menschen in den betroffenen Gebieten schwerwiegende Folgen. Rund um die Nationalparks Chitwan und Parsa stieg die Zahl der tödlichen Tigerangriffe allein in den letzten zwölf Monaten laut Veröffentlichung des diesem Text zugrundeliegenden WWF (World Wide Fund For Nature) Beitrages auf das Dreifache: Zehn Menschen verloren dabei ihr Leben (Rothschädl). Dieser Anstieg macht die komplexe Realität des Tigerschutzes deutlich. Ein Zuwachs an Raubkatzen führt also nicht automatisch zu einem stabilen Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur, sondern kann Konflikte sogar verschärfen. Solange Schutzmaßnahmen nicht auch die betroffenen Menschen mit einbeziehen und langfristige Strategien zur Konfliktvermeidung geschaffen werden, bleibt die Balance zwischen Erhaltung der Art und Sicherheit der lokalen Bevölkerung fragil.
Werkdaten
Max Slevogt, Tiger im Dschungel, 1917, Öl auf Leinwand, 57.4cm x 70.2cm, Hamburger Kunsthalle, Inv. Nr.: HK-2884
Max Slevogts Tiger im Dschungel (1917) bildet einen heftigen Kontrast zu den zuvor gezeigten Werken des Künstlers, nicht nur in ihrer Szenerie, sondern auch im Verhältnis zwischen Mensch und Tier. Während im Zoo-Bild die Menschen als distanzierte, stumme Betrachtende auftreten, die das gefangene Tier aus sicherer Entfernung beobachten, hat sich in diesem Gemälde das Machtverhältnis radikal umgekehrt: Hier ist der Mensch nicht mehr der Beobachter, sondern das hilflose Opfer der entfesselten Kraft des Tigers.
Der Mensch in den Fängen des Tieres verkörpert eine völlige Auslieferung an die Naturgewalt: Eine Dynamik, die in der Zoo-Szene undenkbar wäre. Dort ist es der Tiger, der hinter Gittern seiner Freiheit beraubt ist, während die Menschen die Kontrolle über sein Schicksal haben. Hier hingegen gibt es keine trennenden Gitter und keine Sicherheit.
Diese Gegenüberstellung macht uns bewusst, wie sehr sich das menschliche Verhältnis zum Raubtier je nach Kontext verändert. Im Zoo ist der Tiger ein Objekt der Betrachtung, entmachtet durch seine Gefangenschaft, während er in der freien Natur seine ursprüngliche Rolle als Jäger und Raubkatze einnimmt. Slevogt zeigt mit diesen beiden Werken nicht nur zwei Extreme der Mensch-Tier-Beziehung, sondern auch die Ambivalenz zwischen Faszination und Furcht, die den Blick auf die Wildtiere seit Jahrhunderten prägt.
Literatur
Utz Anhalt: Tiere und Menschen als Exoten – Exotisierende Sichtweisen auf das „Andere“ in der Gründungs- und Entwicklungsphase der Zoos (Diss. Hannover 2007), Hannover 2007.
Astrid Falter: Verband der Zoologischen Gärten e.V., Eine kurze Geschichte der zoologischen Gärten. Vom Altertum bis zum Artenschutz der Moderne, https://www.vdz-zoos.org/wissenswertes/historie-von-zoos [04.02.2025].
Karoline Feulner: Raubkatzen im Frankfurter Zoo, Gezeichnete Malerei, in: Blick zurück nach vorn. Neue Forschungen zu Max Slevogt, hg. v. Gregor Wedekind, Berlin/Boston 2016.
J. Goodrich u.a.: Panthera tigris. The IUCN Red List of Threatened Species 2022: e.T15955A214862019, https://dx.doi.org/10.2305/IUCN.UK.2022-1.RLTS.T15955A214862019.en [04.02.2025].
Meike Rothschädl: WWF Deutschland, Wachsende Gefahr: Tiger retten, Menschen schützen, 2022, https://www.wwf.de/themen-projekte/bedrohte-tier-und-pflanzenarten/tiger/wachsende-gefahr-tiger-retten-menschen-schuetzen [04.02.2025].